Die rote Agenda
reichen Kranken in einer der teuersten
Privatkliniken von Rom.
Salvatore
Partanna näherte sich langsam dem Bett. Der mächtige Attilio Branca, der Mann,
der hinter den Kulissen über Aufstieg und Fall vieler italienischer Politiker
bestimmt und direkt oder indirekt das Leben zahlloser Menschen in der Hand
hatte, stand kurz davor zu erfahren, ob die Hölle existierte oder nicht. Die
Ärzte gaben ihm nur noch wenige Monate zu leben, ein Bauchspeicheldrüsenkrebs
trug ihn hinüber ins Jenseits, und viele würden sich über seinen Tod freuen.
Doch zu
denen gehörte Salvatore Partanna nicht. Im Schatten von Attilio Branca
aufgewachsen, hatte er ihm schon als Junge gedient, den Platz des vor Jahren
verstorbenen Sohns eingenommen und war sein Vertrauensmann geworden. Und nun
spürte er, als er diesen alten Mann auf seinem [62] Sterbebett sah, dass ihm
Tränen in die Augen traten. Nicht nur vor Schmerz, sondern auch vor Scham.
Salvatore konnte es nicht ertragen, ihm gestehen zu müssen, dass die Agenda des
Richters verschwunden war, weil er verraten worden war.
Er setzte
sich neben das Bett, in Erwartung, dass Branca wach würde. Es war alles
schiefgegangen, das musste er zugeben. Bis Tano wenige Tage zuvor die Agenda
des Richters abgeholt hatte, hatte sie jahrelang im Tresor einer englischen
Bank gelegen. Attilio Branca hatte sich ihrer nie explizit bedienen müssen, es
hatte genügt, denen, die es anging, zu verstehen zu geben, dass die Agenda, die
alle suchten, in seinem Besitz war, um zu erreichen, was er wollte. Nicht
einmal Top-Kronzeugen hatten ihn mit ihren Aussagen in Schwierigkeiten bringen
können, denn niemand hätte den Diebstahl der Agenda auf den mächtigen und
angesehenen Attilio Branca zurückführen können.
Salvatore
erinnerte sich an jenen Sommernachmittag vor vielen Jahren, als eine Autobombe
dem Leben und den Ermittlungen dieses unbequemen Richters ein Ende gemacht hatte.
Im Abstand von zwei Monaten waren jene beiden Untersuchungsrichter getötet
worden, die die Cosa Nostra – diese große Holding des organisierten
Verbrechens, die mit den Mächtigen im In- und Ausland zusammenarbeitete – in
ihrer Existenz bedroht hatten. Ihre Ermittlungen hatten zu unvorstellbaren
Ergebnissen geführt, und dies zu Zeiten, da viele noch dachten oder zu glauben
vorgaben, die Mafia gebe es gar nicht. Der Preis dafür war schon zu ihren
Lebzeiten sehr hoch gewesen, viele Kollegen und Mitarbeiter der beiden Richter
waren getötet worden. Doch sie hatten sich [63] nicht einschüchtern lassen – bis
zu jenem Sommer vor sechzehn Jahren, als auch der Richter aus dem Prokurat
Marsala für immer zum Schweigen gebracht worden war.
Um ihn zu
töten, hatte man nichts weiter gebraucht als ein altes Auto voller Sprengstoff,
einen Fernauslöser und einen, der auf den Knopf drückte. Ein Kinderspiel, denn
der Staat, dessen Aufgabe es gewesen wäre, ihn zu schützen, hatte es nicht
getan.
Am Tag vor
dem Attentat hatte Branca Salvatore Partanna nach Palermo geschickt und ihm
gesagt, er habe Grund anzunehmen, dass am nächsten Tag etwas Wichtiges
geschehen werde. Salvatore sollte sich zu einer bestimmten Zeit in einer
bestimmten Straße aufhalten. »Aber nicht allzu nahe«, hatte Branca ihm
eingeschärft und ihm auf dem Stadtplan den genauen Ort gezeigt, wo er sich auf
die Lauer legen sollte.
»Wenn das
geschieht, was ich erwarte, wird es eine heftige Explosion geben, und du musst
früher als jeder andere an Ort und Stelle sein und auf dem Rücksitz des Autos
des Richters nachsehen. Dort hat er normalerweise seine Tasche und darin eine
Agenda. Nimm sie heraus und lege die Tasche zurück an ihren Platz, aber benutze
Handschuhe. Du musst schnell machen, sehr schnell. Einfach wird es nicht sein,
weil es sicher eine starke Rauchentwicklung gibt und du Mühe haben wirst, zu
atmen und zu sehen, wo du deine Füße hinsetzt.«
Partanna
hatte sich auch später nie gefragt, woher Branca die Information hatte, dass
der Richter an jenem Tag getötet würde. Doch so war es immer, denn Branca war
der Puppenspieler, der die Fäden in der Hand hielt, und wenn er sie [64] nicht
selbst in der Hand hielt, wie in diesem Fall, wusste er doch, wer die Puppen
tanzen ließ.
Salvatore
flog also von Rom nach Palermo und nahm am nächsten Vormittag den besagten Ort
in Augenschein, ging die Straße hinunter und blieb vor dem Haus stehen, in dem
die Mutter des Richters wohnte. Erstaunt sah er, dass nicht nur an beiden
Seiten der Straße Autos
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