Die rote Agenda
parkten, sondern auch vor dem Haus, in das sich der
Richter begeben würde. Wenn der Staat seine Leute auf diese Art schützte,
musste man sich nicht wundern, dass so viele gestorben waren, dachte er voller
Abscheu.
Am
Nachmittag begab er sich zur vereinbarten Zeit hinter das Eckhaus der nächsten Querstraße
und wartete. Als er die Explosion hörte, fürchtete er um sein Leben. Die
Fensterscheiben in den Häusern zersprangen, die Mauern schienen zu beben, auch
dort, wo er sich befand, und dicker schwarzer Rauch verdunkelte den Himmel.
Doch er verlor keine Zeit und rannte zum Ort des Attentats. Als er dort ankam,
bot sich ihm ein Bild des Schreckens, das ihn bis heute in seinen Alpträumen
verfolgte. Er versuchte sich nicht umzublicken, einfach nur weiterzugehen, wie
betäubt von den tausend aufheulenden Alarmanlagen, der Rauch brannte ihm im
Hals und in den Augen. Die Autos waren zerborsten, Blechteile und zerbrochene
Scheiben überall hingeflogen. Während er sich dem Alfa des Richters näherte – denn auch diesen hatte Branca ihm genau beschrieben –, wäre er beinahe
gestolpert, und als er zu Boden schaute, sah er Teile menschlicher Glieder in
Lachen von Blut. Fast hätte er sich übergeben, doch er wandte den Blick ab und
ging weiter. Die Karosserie des Autos war zusammengedrückt, aber der [65] Innenraum
war intakt. Er sah ganz in der Nähe, direkt vor dem Eingang des Hauses, die
Reste eines Kleinwagens und begriff, dass es sich bei dem mit Sprengstoff
vollgestopften Auto um eines derjenigen handelte, die ihm wenige Stunden zuvor
aufgefallen waren, als er den Ort in Augenschein genommen hatte. Er überlegte,
dass der Mann mit dem Fernauslöser sicherlich an einem Ort in Stellung gegangen
war, von dem aus er jeder Bewegung des Richters zu folgen vermochte, so dass er
den Knopf im richtigen Augenblick drücken konnte, nicht zu früh und nicht zu
spät.
Er fand die
Ledertasche auf dem Rücksitz, genau so, wie Branca es gesagt hatte. Er öffnete
sie, drinnen war eine Agenda, er nahm sie und steckte sie in die Jacke, dann
legte er die Tasche wieder an ihren Platz und ging eilig dorthin zurück, von wo
er gekommen war.
Später
hatte er Branca niemals Fragen zu diesem Auftrag gestellt, und er würde es auch
niemals tun.
Der Mann im
Bett bewegte sich, Salvatore ging näher heran, doch der Kranke schlief weiter
seinen Morphinschlaf. Er betrachtete eine Weile das eingefallene Gesicht und
die hageren Hände und setzte sich mit einem Seufzen wieder hin.
Seit er von
seiner Krankheit wusste, hatte Branca sich verändert, und das nicht nur
körperlich. Vielleicht hatte das Nahen des Todes auf alle Menschen diese
Wirkung, dachte Salvatore. Noch ein Jahr zuvor wäre es unvorstellbar gewesen,
dass er die Agenda jemand anderem anvertraut hätte.
»Ich sterbe
bald, das weiß ich«, hatte Branca zu ihm gesagt, »doch vorher gebe ich die
Agenda jemandem, der mächtiger ist als ich und der sie alle weiter auf
glühenden Kohlen [66] tanzen lässt, diese unersättlichen Schwätzer von Politikern
und Bankern!«, hatte er zufrieden ausgerufen. »Gott hat mir geraten, das zu
tun!«, hatte er hinzugefügt, doch diesmal mit dem ironischen und vielsagenden
Grinsen alter Zeiten.
Salvatore
hatte auch an dem Tag nicht nach Erklärungen gefragt. Wenn der Chef das so
wollte, gab es nichts einzuwenden. Er hatte gehorcht und fertig.
Branca
wusste immer, was er tat. Er war ein gebildeter Mann, ein studierter Jurist,
ein in Italien und im Ausland respektierter Unternehmer. Sein beträchtliches
Vermögen stammte aus der Familie, doch war er damit seit frühester Jugend so
geschickt und skrupellos umgegangen, dass er es verzehnfacht hatte. Salvatore
hatte nie verstanden, warum er gerade ihn als seinen Vertrauensmann auserwählt
hatte, wo er doch immer von einer Schar hochrangiger Berater umgeben war. Aber
natürlich auch von den »netten Jungs«, den weniger präsentablen Mitarbeitern,
die bei Bedarf die schmutzigeren Arbeiten verrichteten.
Nun würde
er ihm nicht nur mitteilen müssen, dass die Mission gescheitert war, sondern
auch, dass man Tanos Leiche unter einer Themsebrücke gefunden hatte – quasi ein
Zitat des Mordes an Roberto Calvi, dem Bankier Gottes. Und auch die nächtliche
Expedition in die Räume von Sommer’s, die Partanna noch in der Nacht von Tanos
Verschwinden organisiert hatte, war ergebnislos geblieben: keine Spur von der
Agenda im Lager das Auktionshauses.
Vor seinem
Tod war Tano gefoltert worden, darüber
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