Die rote Agenda
Herz
schlug dem Senator bis zum Hals, als er die Nachrichten aus Sizilien hörte.
Calogero Bonanno war mitsamt seinem schönen Barockpalast in die Luft geflogen,
und [265] zwei Mitglieder der Gerlando-Familie hatte man mit Kalaschnikows in
ihren Autos erschossen.
»Solange
sie sich gegenseitig umbringen…«, kommentierte der Taxifahrer und warf ihm im
Rückspiegel einen Blick zu. »Dieser Bonanno muss sich irgendjemandem gegenüber
eine Beleidigung erlaubt haben, einen sgarbo, wie sie
dort unten sagen, sonst hätten sie ihn nicht auf diese Art umgebracht«, meinte
er kennerhaft.
Während der
Taxifahrer weiterschwatzte, versuchte der Senator Ruhe zu bewahren und Ordnung
in seine Gedanken zu bringen. Irgendetwas würde bald über das Land
hereinbrechen, etwas sehr Ähnliches wie zu Zeiten des Tangentopoli-Skandals.
Die Zweite Republik würde genauso untergehen wie die Erste, dessen war er sich
sicher: Die Vorzeichen wiesen darauf hin.
Was die
beiden Untersuchungsrichter damals herausgefunden hatten, nämlich dass ein
guter Teil der Führungsschicht des Landes mit der organisierten Kriminalität
gemeinsame Sache machte, war inzwischen eine akzeptierte Tatsache. Alle wussten
Bescheid über die anhaltende Korruption und Bereicherung, durch die das Land
vor allem in den letzten Jahren ausgesaugt worden war, was zu einem starken
Unbehagen in der sogenannten Zivilgesellschaft – oder den Resten, die es davon
noch gab – geführt hatte.
Und doch,
trotz der zahlreichen Anzeichen unmittelbar bevorstehender Gefahr hatten die
Machthaber, geblendet durch Allmachtsphantasien und Geldgier, weiter ohne Ende
gerafft. Jetzt jedoch ließ die katastrophale Wirtschaftskrise die Probleme ans
Tageslicht kommen.
In einem
Anfall von Wut verwünschte der Senator seine [266] Komplizen und ihre
fresssüchtige Gier. Wie oft hatte er versucht, sie zu warnen, und ihnen
erklärt, dass sie bestimmte Grenzen nicht überschreiten und denjenigen, die
ihren Aufstieg ermöglicht hatten, nicht auf die Zehen treten dürften.
»Idioten!«,
brach es aus ihm heraus, so hasserfüllt, dass er die Gefahr vergaß, in der er
selbst schwebte.
Der
Taxifahrer, im Glauben, sein Ausbruch beziehe sich auf das Massaker im Irak,
über das im Radio gerade berichtet wurde, nickte eifrig. »Das können Sie laut
sagen! Der Iraker hätte diesem Scheißkerl keine normalen Schuhe, sondern ein
Paar holländische Holzpantinen an den Kopf werfen sollen!«
Der
Senator, verloren in seinen Gedanken, hörte es nicht. Er begann langsam den
Plan zu erkennen: Der erste Schlag würde gegen ihn geführt werden, wegen dieser
verdammten Agenda, aber dann würden weitere folgen und die politische Klasse
dezimiert werden. Diese Mafiamorde waren das alarmierende Anzeichen einer schon
angelaufenen Säuberung mit dem Ziel, sie alle auszulöschen.
Er musste
so schnell wie möglich verschwinden, bevor ein Haftbefehl gegen ihn erlassen
würde. Es war nur eine Frage der Zeit, vielleicht von Stunden, dann würde sein
Name in den Zeitungen der halben Welt auftauchen.
Er fragte
sich, ob er seinen Freund, den Präsidenten, warnen sollte, doch er verwarf die
Idee sofort, er konnte es sich nicht erlauben, irgendwie auf sich aufmerksam zu
machen. Wenn dieser Größenwahnsinnige seinerzeit auf ihn gehört hätte, wäre
alles anders gelaufen. Sollte er doch sehen, wie er zurechtkam. Er glaubt ein
Messias zu sein? Dann mochte er eben am Kreuz enden!
[267] Das Taxi
hielt vor der Mole Antonelliana, wenige Schritte vom Eingang des Museo
Nazionale del Cinema entfernt. Der Senator bezahlte die Fahrt und stieg aus.
Als er die ersten Stufen der Treppe hinaufgegangen war, konnte er nicht anders,
als zur Kuppel hochzuschauen, die sich gegen den blauen Himmel abhob.
Er kannte
das Filmmuseum, weil er vor Jahren hier gewesen war, ausgerechnet in Begleitung
des Präsidenten, der es, damals noch Ministerpräsident, eingeweiht hatte. Das
Museum war in der Welt ebenso einzigartig wie das Gebäude, in dem es
untergebracht war. Die Mole Antonelliana, das Wahrzeichen der Stadt, war ein
faszinierendes und gleichzeitig absurdes Bauwerk, das vor allem in die Höhe
strebte. Als Synagoge geplant, war die Mole am Ende des neunzehnten
Jahrhunderts von der Stadt Turin gekauft und zu einem Monument der Nationalen Einheit
deklariert worden. Damals war sie das höchste Bauwerk Europas.
Als er
Eintritt bezahlte, erinnerte sich der Senator daran, irgendwo gelesen zu haben,
der neunzigjährige Architekt Antonelli habe sein
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