Die rote Agenda
Meisterwerk als »einen
vertikalen Traum« bezeichnet. Der Senator schüttelte den Kopf: Was für eine
banale, ja lächerliche Feststellung. Man träumt, während man schläft, in
horizontaler Position, und die Mole einen »vertikalen Traum« zu nennen
bedeutete, sie auf eine dumme Phantasie im Wachzustand zu reduzieren.
Der
Sizilianer hatte sich mit ihm in der spektakulären, riesigen Aula del Tempio im
Zentrum der Mole verabredet. Der Senator folgte den Hinweisschildern, und
nachdem er den roten Samtvorhang passiert hatte, fand er sich an einem
phantastischen, sehr kinematographischen Ort wieder. [268] Im Inneren dieses
sogenannten Tempelsaals waren Chaiselongues verteilt, auf denen sich die
Besucher ausstrecken und die auf zahlreiche Leinwände projizierten Filme, aber
auch die atemberaubend hohe Kuppel bewundern konnten. In der Mitte trug ein
gläserner Aufzug mit einer Geschwindigkeit von beinahe hundert Metern in
weniger als einer Minute die Mutigeren unter ihnen hinauf in die Spitze, um
dann wieder nach unten zu fahren, in einem surrealen Auf und Ab.
Als der
Senator sich der mehr als drei Meter hohen goldenen Skulptur des Gottes Moloch
zuwandte, einer Originalrequisite aus dem Stummfilm Cabiria, spürte er plötzlich, wie jemand ihn am Arm fasste. Er zuckte zusammen,
fürchtete das Schlimmste. Doch es war der Sizilianer.
»Kommen
Sie, Senatore«, sagte er und schob ihn sanft zu der Treppe, die zur Rampe
führte, auf der, ähnlich wie im Guggenheim, die Besucher zu Fuß zur Kuppel
hochsteigen und die verschiedenen Stockwerke und Ausstellungsflächen erreichen
konnten.
»Kommt nicht
in Frage, ich bin nicht schwindelfrei«, protestierte der Senator.
Der
Sizilianer zuckte die Schultern. »In Ordnung, dann bleiben wir hier. Aber
lassen Sie uns einen Ort suchen, der ein wenig abseits liegt.«
Sie wandten
sich der Wand zur Linken zu, wo sich die berühmten »Kapellen« befanden, Räume,
in denen man Filmkulissen nachgebaut hatte. Sie betraten die erste dieser
Kapellen, ein im Stil des 19. Jahrhunderts eingerichtetes Zimmer, das irgendwie
vertraut wirkte: ein Kamin, ein Cretonne-Sessel, das Porträt von Königin
Victoria, eine auf dem Stuhl [269] liegende Geige, ein Regal mit Mikroskop,
Destillierapparaten und Reagenzgläsern, ein für zwei gedeckter Teetisch,
kuriose Gegenstände hier und dort und der berühmte persische Pantoffel auf dem
Kaminsims.
Das
Londoner Arbeitszimmer von Sherlock Holmes, 221 Baker Street, war in diesem
Jahr rekonstruiert worden, um an die Veröffentlichung des ersten Falls des
berühmtesten Detektivs der Welt und an die Filme zu erinnern, die nach den
Romanen gedreht worden waren.
Der
Senator, der sehr abergläubisch war, fürchtete, es könnte ein schlechtes Omen
sein, dass sie bei all den Räumen gerade in diesen geraten waren. Letztlich war
er ja für den Tod des Sherlock-Holmes-Experten verantwortlich, da er seine
Männer nach London geschickt hatte, um die Agenda zurückzuholen. Bedeutete
dieser Zufall vielleicht, dass der Engländer sich aus dem Jenseits rächen
wollte?
Ich werde
langsam verrückt, ging ihm durch den Kopf, als er wieder bei sich war und seine
Aufmerksamkeit erneut dem Sizilianer zuwandte.
»Entschuldigung,
was hast du gesagt?«, fragte er.
Der
Sizilianer sah ihn verwirrt an. »Ich sagte, die Dinge entwickeln sich nicht zum
Guten, es wäre besser, Sie würden sofort das Land verlassen. Ein Mafiakrieg
steht bevor, und es geht das Gerücht, dass auch Ihre Freunde sehr bald
Schlimmes durchmachen werden.«
»Was weißt
du Genaues über den Anschlag auf Bonanno?«
»Wenig. Und
über die Ermordung der beiden Gerlandos gar nichts. Da herrscht eine Menge
Konfusion. Irgendjemand will Zwietracht säen, und es gelingt ihm. Branca hatte
es schon angedeutet…«
[270] »Ja.
Hast du getan, was ich dir gesagt habe?«
Der
Sizilianer nickte. »Natürlich. Wir hören das Telefon von Signora Malacrida ab.
Aber warum sind Sie so an ihr interessiert?«
Der Senator
zuckte gleichgültig mit den Schultern. Der Sizilianer wusste nichts von der
falschen Identität, hinter der sich der Pate verbarg.
»Ich kenne
Lorenzo Malacrida. Er könnte mir nützlich sein. Es ist immer besser, man hat
Informationen über einen, der uns von Nutzen sein kann. Hast du die Mitschnitte
von heute dabei?«
»Natürlich.«
Der Sizilianer, den diese Erklärung nicht sehr überzeugte, zog ein kleines
Aufnahmegerät mit Kopfhörer aus der Tasche und gab es ihm.
»Nichts
Interessantes«, sagte
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