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Die rote Antilope

Die rote Antilope

Titel: Die rote Antilope Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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und ließ die Regentropfen auf sein Gesicht prasseln. Das Fieber war verschwunden, aber der Husten war geblieben. Und eine eigentümliche Müdigkeit, die niemals wich, so viel er auch schlief.
    Die Nächte waren allmählich heller und kürzer geworden. Daniel ging öfter zum Hügel hinauf, wenn im Haus Stille eingekehrt war. Immer noch hoffte er, Sanna würde zurückkommen. Er hinterließ auf dem Hügel Zeichen für sie, malte seinen Namen in den Lehm, ließ seine Schuhe da. Aber wenn er zurückkam, fanden sich keine Spuren von ihr. Eines Nachts wagte er sich zu dem Haus, in dem sie wohnte. Er versuchte, durch die niedrigen Fenster hineinzuspähen, den Platz zu finden, wo sie schlief. Aber das einzige, was durch die Wand zu hören war, war jemand, der schnarchte, und Daniel wußte, daß es der Mann war, der sie an den Haaren weggeschleppt hatte.
    Als er wieder fähig war zu denken, hatte er ausgerechnet, daß seit seiner Rückkehr drei Vollmonde gekommen und gegangen waren. Noch ein einziges Mal würde er weglaufen können. Wenn er es dann nicht schaffte, nach Hause zu gelangen, würde er sterben. Wenn sie ihn wieder einfingen, würden sie ihn fesseln, und er würde niemals die Kraft haben, sich zu befreien.

    Er dachte auch, daß der Tod vielleicht nicht so erschreckend wäre. Kiko war tot, und Be. Aber mit ihnen konnte er reden. Obwohl sie im Sand begraben lagen, konnten sie immer noch lachen. Er erinnerte sich auch, wie Be ihn in der Baumkrone geboren hatte und wie sich dann ihre Arme in Flügel verwandelt hatten. Er beschloß, keine Angst vor dem Sterben zu haben, auch wenn er noch ein Kind war. Der Husten, der nicht von ihm weichen wollte, war ein Zeichen dafür, daß der Tod sich schon in irgendeinem Winkel seines Körpers eingenistet hatte. Kiko hatte ihm einmal von all den Hohlräumen erzählt, die ein Mensch in sich hat. Irgendwo in einer solchen Höhle verbarg sich der Tod, und eines Tages würde er die Lebensgeister aus seinem Körper vertreiben. Daniel wußte, daß der Husten nicht aus seinen Lungen kam. Es war der muffige Geruch aus der geheimen Grotte in seinem tiefsten Inneren.

    Was ihm Angst machte, war nicht der Tod. Es war der Gedanke daran, daß er so lange tot sein würde. Und noch länger, wenn er hier im Lehm begraben würde, bei der Kirche, in der Hallen predigte. Kiko und Be würden ihn niemals finden. Er konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen, als tot dazuliegen, inmitten von Unbekannten. Mit wem sollte er reden? Wer sollte ihm Gesellschaft leisten, wenn er sich auf die langen Wanderungen durch die Wüste begab?
    Das Wichtigste aber war die unvollendete Antilope.
    Er konnte sie nicht im Stich lassen. Kiko hatte gesagt, er sei es, der sie zu Ende bringen und dafür sorgen sollte, daß sie weiterlebte. Die Götter würden auch ihn verlassen, wenn er hier im Lehm starb.
    Er glaubte nicht mehr, daß er würde lernen können, wie man auf dem Wasser ging. Der Tod, den er in sich trug, machte ihn zu schwer. Ebensowenig glaubte er, daß er den Hafen wiederfinden könnte, wo die Schiffe warteten.

    Er merkte, daß die Gedanken, die er dachte, so schwer waren, daß er sie kaum zu tragen vermochte. Er war immer noch zu klein für all das, was ihm aufgebürdet wurde. Er hatte die Lasten nicht nur auf den Schultern, er hatte sie auch in sich.

    In einer Nacht, als er auf dem Hügel saß, wurde ihm klar, daß er es nie schaffen würde, wenn er nicht Hilfe bekäme. Die einzigen, die ihm helfen konnten, waren Alma und Sanna. Vielleicht auch Edvin. Aber Edvin hatte Angst vor Hallen. Er wagte es fast nie, zum Himmel hochzusehen. Sein Blick war auf die Erde geheftet. In sich trug er eine Angst vor allem, was unerwartet war. Daß er Daniel damals bei sich aufgenommen hatte, war womöglich eine Folge der Angst, er könnte es sich mit Doktor Madsen verderben, der ihm oder Alma dann vielleicht eines Tages die Behandlung verweigern würde, wenn sie erkrankten. Aber Alma war anders. Sie fürchtete nichts anderes, als daß Daniel unnötig leiden müßte. Aber zugleich durfte er nicht außer acht lassen, daß sie alt war. Sie hatte Schmerzen im Rücken, ihre Beine waren steif.
    Schließlich blieb nur Sanna. Und sie war verschwunden. Obwohl er ihr ständig Zeichen auf dem Hügel hinterließ, antwortete sie nicht.

    Vielleicht war sie tot? Vielleicht hatte der Mann, der sie an den Haaren mit sich geschleift hatte, sie erschlagen?
    Sanna war wie niemand sonst. Sie hatte möglicherweise etwas
    Gefährliches getan und

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