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Die rote Antilope

Die rote Antilope

Titel: Die rote Antilope Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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war mit dem Tod bestraft worden. Vielleicht hatte Hallen sie an Daniels Statt an die Planken genagelt?

    Er dachte, daß er herausfinden müßte, ob Sanna noch am Leben war. Ohne sie konnte er sich ebensogut hinlegen und sterben. Dann würde er in der Tiefe der braunen Acker verschwinden, und jene, die nach ihm suchten, würden es vergebens tun.

    Das Auge der Antilope würde weinen.

    In derselben Nacht legte er den langen Weg zur Kirche zurück. Die große Tür war geschlossen, aber es gelang ihm, ein Fenster der Sakristei aufzubekommen und hineinzuschlüpfen. Er zündete eine Kerze an und schauderte vor Kälte. Hallen war in den Schatten zugegen und atmete ihn an. Daniel knurrte wie ein Tier, und Hallens Schatten verschwand. Dann trat er in den Kirchenraum hinaus. Nirgendwo fand er Planken mit einer angenagelten Sanna. Zum erstenmal wagte er sich hinter die Altarschranke, stellte sich auf die Zehenspitzen und strich über das durchlöcherte Knie der aufgehängten Gestalt. Als er mit den Fingern nachfühlte, merkte er, daß ein Holzspan lose war. Vorsichtig zog er ihn heraus und steckte ihn in die Tasche.
    Er blies die Kerze aus und verließ die Kirche.

    Es begann schon hell zu werden. Nebelschwaden trieben über die Äcker.

    So schnell er konnte lief er den Weg entlang. Irgendwo in der Ferne hörte er einen Hahn krähen. Als er zu Almas und Edvins Haus kam, war es noch still. Er bog vom Weg ab und ging weiter am Feldrain entlang, bis er oben auf dem Hügel angekommen war. Sofort stellte er fest, daß Sanna nicht dagewesen war. Er nahm den Holzspan aus der Tasche und grub ihn in die Erde ein. Als er den weiten Weg von der Kirche zurückgelaufen war, hatte er gedacht, er müßte die Erinnerungen benutzen, die er noch besaß. Die Erinnerung an die Zeit, als er so klein war, daß er noch auf Bes Rücken festgebunden war. Die Erinnerung an ihre Füße, wenn sie tanzte. Mit bloßen Füßen zog er einen Kreis um die Stelle, an der er den Holzspan vom beschädigten Knie Jesu eingepflanzt hatte. Dann begann er in seinem Körper nach Bes schaukelnden Bewegungen zu suchen. Obwohl er husten mußte, tanzte er um den eingezeichneten Kreis herum. Er wollte auch singen, dachte aber, daß Edvin ihn bestimmt hören würde. Ein Hase saß regungslos draußen auf dem Acker und sah ihn an. Er tanzte, bis die Hustenanfälle ihn zu ersticken drohten.
    Als er sich mit der Hand über den Mund fuhr, entdeckte er, daß Blut herauskam. Der kalte Wind aus der Höhle des Todes war bis in seinen Mund gelangt. Er hockte sich hin und spuckte auf die Erde. Jetzt war der Holzspan dort mit seinem Blut vereint. Er setzte sich auf den Boden und schnappte nach Luft. Es stach und kratzte in seiner Brust. Aber jetzt war er sich sicher. Sanna würde zurückkommen. Und sie würde verstehen, daß er nach ihr suc hte.
    Als er den Hügel hinunterging, übermannte ihn plötzlich eine solche Kraftlosigkeit, daß er umfiel. Er blieb auf dem Rücken liegen und sah zum Himmel auf, der von niedrigen Wolken bedeckt war. Das Herz schlug schnell, und die Lungen kämpften darum, Luft einzusaugen. Ich muß es schaffen, dachte er. Ich darf nicht hier im Lehm sterben.

    Nach einer Weile stand er auf und setzte den Heimweg fort. Noch immer stieg kein Rauch aus dem Schornstein. Er ging in den Stall, rollte sich im Heu zusammen und schlief ein.

    Er wurde davon wach, daß der Knecht ihn anstieß.

    - Vanja ist krank, sagte der Knecht. Alma pflegt sie. Hier hast du dein Essen.
    Daniel antwortete nicht. Er nahm seinen Napf entgegen und
    fing an, von dem Brei zu essen. Er mochte den Knecht nicht. Nie hatte Jonas den Mut gehabt, ihm in die Augen zu sehen. Sogar wenn er seinen Namen sagte, klang es, als ob er etwas sagte, das nicht wahr war. Daniel nahm an, daß Jonas ihn haßte, weil er eine andere Hautfarbe hatte. Jonas hatte rote Haare, und seine Haut war fast so weiß wie Schnee. Mehrmals hatte er gehört, wie Edvin sich bei Alma darüber beklagte, sie hätten einen Knecht, der faul sei.

    Vanja war die ältere der beiden Mägde, und die dickere, im Gegensatz zu Serja, die klapperdürr war. Während er aß, dachte er, Vanja müsse ernstlich krank sein, da Alma ihm das Essen nicht selber brachte. Serja war immer diejenige gewesen, die ihn beäugt hatte, diejenige, auf die Alma am häufigsten böse wurde. Vanja bewegte sich plump und gemächlich, und manchmal brach sie unvermittelt in heftiges Gelächter aus, das keiner verstand, und hinterher saß sie schweigend da und strich

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