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Die rote Farbe des Schnees

Die rote Farbe des Schnees

Titel: Die rote Farbe des Schnees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Evelyn Holmy
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Moment findet sie sich in Nähe eines reich gedeckten Tisches in einem
kleineren rechteckigen Raum wieder, der durch ein dreilichtiges Fenster erhellt
wird. Joan geht zu diesem herüber. Neugierig späht sie zur mittleren der drei
durch steinerne Säulen voneinander getrennten Fensteröffnungen heraus und
gewahrt, dass sie in einem großen Erker steht. Verzückt blickt sie auf den Hof
und das weite Land hinaus. „Oh wie herrlich, Malcom“, ruft sie aus, wobei sie
sich freudestrahlend zu ihm herum dreht.
    Einladend zieht er ihr einen
hochlehnigen Stuhl zurück. Joan lässt sich darauf am Tisch nieder.
    „Meine Familie hat es ab und zu
genossen, hier unter sich zu frühstücken, um dem unruhigen Treiben der Halle zu
entgehen“, erklärt er, während er ihr gegenüber Platz nimmt.
    Sie ergreift einen silbernen
Becher, in welchen ihr Malcom aus einem Krug einschenkt. Durstig nimmt sie
einen großen Schluck Cidre. „Wie viele Geschwister hattest du?“
    Er füllt seinen eigenen Becher.
„Acht. Und alle außer mir waren an jenem verfluchten Tage hier, als sie von den
Schotten überrascht wurden. Es war zu Ostern.“
    „Wie hinterhältig“, raunt sie.
Kopfschüttelnd schneidet sie sich eine große Ecke frischen Ziegenkäse ab und
verzehrt diese zu weißem Brot. Die Bratenreste vom vergangenen Abend rührt sie
nicht an. Ab und zu taucht sie das Brot in ein Schälchen voller Kräuterquark.
Sie denkt an ihren Vater, der soeben wahrscheinlich die schwersten Momente
seines Lebens durchmacht und räuspert sich unbehaglich. „Malcom, ich weiß, es
war anders geplant, aber er hat mir angesehen, dass etwas nicht stimmt.“
    Seine grüblerische Miene
wechselt schnell in eine bestürzte. Er würgt seinen Bissen Hasenbraten
herunter. „Joan, sag’, dass ich gerade das Falsche denke.“
    „Ich habe es ihm erzählt“,
gesteht sie ihm kleinlaut ein. „Er hat darauf bestanden.“
    „Verdammt, natürlich hat er
das. Aber er wird es in seinem Zustand nur schwer verkraften.“
    „Du weißt nicht, wie hartnäckig
er sein kann“, versucht sie, sich zu rechtfertigen.
    „Oh wie kommst du darauf“,
entgegnet er auffahrend. „Offenbar kenne ich ihn weitaus besser, als du.
Verflucht. Es war zu früh.“ Tief durchatmend straft er sie bösen Blickes. „Wer
ist bei ihm?“
    „Er wollte allein sein.“
    „Allein“, wiederholt er tonlos,
um sich dann ruckartig zu erheben. Er steckt sich noch einen Bissen des kalten
Bratens in den Mund, nippt hastig an seinem Cidre.
    „Malcom, respektiere doch
seinen Wunsch. Er wollte niemanden um sich haben.“
    „Das ist scheinbar immer die
erste Reaktion. Doch in Einsamkeit vergeht die Zeit erbarmungslos langsam. Vor
allem dann, wenn man hilflos ans Bett gefesselt ist.“
    Sie kann
ihm nichts mehr erwidern, da er schon zur Tür heraus ist. Seufzend lehnt sie
sich zurück. Dann legt sie ihr Brot beiseite und erhebt sich ebenfalls. Ihr ist
der Appetit vergangen.
    Joan
befindet sich auf dem Felsen über dem oberen Tor, wo sie sich auf der Wehrmauer
in ein Zinnenfenster gekauert hat. Mit dem Rücken gegen eine Zinne gelehnt
blickt sie in die Ferne, beobachtet die winzigen gebeugten Gestalten der
Bauern, welche einen Teil der Ernte als Wintersaat wieder auf ihren frisch
gepflügten Feldern ausbringen. Die letzten Schwalben versammeln sich in großen,
immer wieder auffliegenden Schwärmen, um sich gen Süden aufzumachen. Es ist
herrlich anzusehen und lenkt Joan ein wenig von ihren trüben Gedanken ab. Genau
genommen weiß sie nicht, wie lange sie schon so da hockt. Als sie nach ihrem
kurzen Frühstück das laute Schluchzen ihres Vaters vom Korridor aus vernahm,
suchte sie die Einsamkeit. Beim Gedanken an ihn schnürt sich ihr wieder die
Kehle zu. Malcom tut gut daran, ihm Beistand zu leisten. Schweren Herzens muss
sie sich eingestehen, dass er ihn besser als sie eingeschätzt hatte. Und Vater
würde sich ihr nie so öffnen, wie gerade Malcom gegenüber. Sie verbindet das
gleiche Schicksal. Verächtlich schniefend trocknet sie sich mit dem Ärmel die
Augen. Schließlich hat sie ebenfalls alle, die ihr lieb waren, verloren. Sie
macht sich herbe Vorwürfe, nicht Malcoms Rat befolgt zu haben und hofft, dass
sich ihr Vater nicht von diesem Schicksalsschlag niederringen lässt.
    Das Gekreisch spielender Kinder
dringt an ihr Ohr und sie wendet sich diesen gedankenverloren zu. Versonnen
beobachtet sie Isabella und deren Spielkameraden beim gegenseitigen Fangen. Wie
beneidet sie die Kleinen um deren

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