Die rote Farbe des Schnees
kam.
„Jack?“
Joan wird aus ihren Gedanken
gerissen. Malcom ist schon aufgesessen und blickt sie ungeduldig an. „Was
grübelst du? Du wirst dich nicht an mich erinnern. Und nun sitz schon auf!“ Er
späht durch die Baumwipfel hindurch nach der Sonne, um deren Stand zu prüfen.
„Wir haben heute noch ein gutes Stück Weg vor uns.“
Als sie
ihm auf ihrem Rappen hinterher folgt, wird ihr plötzlich die ganze Tragweite
seiner Worte bewusst. Es bring sie angsterfüllt ins Schwitzen. Denn es kann nur
eine Frage der Zeit sein, bis er bemerkt, dass es einen dreizehnjährigen Sohn
Raymonds überhaupt nicht geben kann, da ihre Mutter ja etliche Jahre zuvor bei
Joans Entbindung starb. Sie schluckt trocken. Vielleicht nimmt er an, ihr Vater
hätte noch einmal geheiratet. Oder er hat bei ihrer großen Geschwisterzahl den
Überblick verloren. Vermutlich wäre es aber das Klügste, sich bei der
nächstbesten Gelegenheit einfach heimlich aus dem Staube zu machen.
Es dämmert
bereits und sie sitzen noch immer zu Pferde. Malcom will offensichtlich die
Abendkühle so lange als möglich ausnutzen. Die Mondsichel hebt zart rötlich und
übergroß auf ihrer Reise vom Horizont ab. Sie haben das West Riding der
Grafschaft Yorkshire, dem Malcoms Lehen angehört, verlassen und befinden sich
im North Riding auf der alten, gepflasterten Römerstraße, die das Land im
weiteren Verlauf nach Nordwesten durchzieht und sie bis nach Stirling Castle in
den Lowlands Mittelschottlands führen wird.
Joan blinzelt gähnend. Noch
immer ist sie bis zum Umfallen satt, darüber hinaus todmüde. Solche Gewaltritte
ist sie nicht mehr gewöhnt. Und die letzte Nacht mit Malcom war nur zu kurz
gewesen. Sie kommt ihr allmählich recht unwirklich vor. Mit einem erleichterten
Aufatmen begrüßt sie es, dass er vor ihr endlich von der gepflasterten Straße
abbiegt. Vom Reiten schmerzen ihr Rücken und Gesäß. Und dies, obwohl sie einen
Zelter mit der ihm eigenen, beinahe erschütterungslosen Gangart reitet!
Schließlich gibt ihr Dienstherr
das Zeichen zum Halten. Sie sitzen ab. Joan nimmt ihrer beider Pferde und führt
die Tiere ein wenig abseits zum Grasen. Beim Abzäumen und Absatteln kann sie
den Sattelknauf von Malcoms Schlachtross gerade so erreichen. Wieder einmal
versetzt sie die Größe des Tieres in Erstaunen. Nachdem sie Malcom aus der
Rüstung geholfen hat, unterstützt sie die Männer beim Abladen und Versorgen der
Packpferde.
Die Dämmerung tut der Schwüle
nur einen geringen Abbruch und verschafft kaum Milderung. Jede Bewegung ist
schweißtreibend. Unweit der Straße liegt ein kleiner Weiher im Unterholz
verborgen, Wasser für Mensch und Tier. Malcom scheint absichtlich an genau
jener Stelle gerastet zu haben.
Joan steht an der Seite von
Malcoms Streitross und beobachtet verdutzt, wie schnell dieses den Hafer
vertilgt, welchen sie ihm soeben gab. Als sie seine Flanke tätschelt, zuckt es
ein wenig, lässt sich jedoch nicht stören. Sie hört Schritte und gewahrt Malcom
auf sich zukommen. Sein Pferd hebt den Kopf und empfängt ihn mit einem sanften
Stupser gegen die Brust, um ihm gleich darauf seine Zuneigung durch Anknabbern
seiner Tunika zu bezeugen. Lächelnd streicht ihm Malcom über die Nüstern.
„Er heißt Brix“, bedeutet er
ihr, worauf Joan nickend zu ihm hoch sieht.
„Ein Name vom alten Volk?“
„Hm.“ Er schwankt etwas unter
Brix’ Gunstzuwendungen.
„Was bedeutet er?“
„Der Kräftige oder der Starke.“
Joan lächelt. „Sehr
zutreffend.“
Malcom blickt sie an. „Es ist
gut, dass du mit ihm klar kommst. Das erleichtert vieles“, erklärt er und
betrachtet den Hafer zu seinen Füßen. „Er braucht mehr Hafer, als gewöhnliche
Pferde. Du musst ihm etwa das doppelte Hafermaß geben. Und ich sattle ihn
lieber persönlich. Du wirst nicht so hoch hinauflangen können. ... Morgen reite
ich allerdings den Fuchs von unserer heutigen Jagd.“ Er streicht Brix über die
edle Stirn. „Kratz ihm noch die Hufe aus und leg’ dich dann schlafen. Der Tag
heute war nichts im Vergleich zu dem, was uns morgen bevorsteht.“
Joan nickt. „Sir, warum reitet
Ihr in Rüstung?“
Malcom schüttelt mit rollenden
Augen den Kopf. „Wie oft muss ich dir noch das DU anbieten, bevor du dich dazu
überwinden kannst, endlich Gebrauch davon zu machen? Keiner meiner Männer redet
mich mit meinen Titeln an“, weist er sie schon wieder ungeduldig zurecht,
lächelt jedoch nachsichtig über ihre betretene Miene. „Das ist bei uns
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