Die rote Farbe des Schnees
Lennart, Jeremys Knappen, der etwa in Joans Alter ist, in ihrer Nähe ins
Gras, um erstaunliche Mengen an Brot mit Schinken zu vertilgen.
Joan bleibt erschöpft neben
Blanche im Gras liegen, lässt die Kleinen geduldig dabei gewähren, ihr auf den
Beinen herumzuklettern. Irgendwann wird ihr das Treiben jedoch zu bunt, in
Folge dessen sie die beiden mit je einem geschälten Ei zur Räson bringt.
Während sie essen kramt sie Ulmans Flöte hervor, um ihnen eine beruhigende
Melodie vorzuspielen. Vorerst die einzige, welche sie neben Greensleeves auf
diesem Instrument beherrscht. Isa kommt neben sie und windet Blumen zu einem
Kranz.
„Wie heißt deine Freundin“,
fragt Joan sie, als sie ihr Flötenspiel beendet hat.
„Sophia.“ Isa lächelt
geheimnisvoll. Sie springt plötzlich auf und stibitzt sich zwei Eier, mit denen
sie dann zu Sophia hinüber hüpft, die ein wenig abseits im Gras kniet.
Blanche seufzt. „Isa hielt sie
den Winter über in den Ställen von Dowell Castle verborgen und gab ihr jeden
Tag zu essen. Wir bemerkten es erst nach Wochen.“
Joan schüttelt lächelnd den
Kopf. „Sie hat ein gutes Herz. ... Mich dauerte die Kleine ebenfalls. Ich sah
sie einst bei der Armenspeisung. Ihre Eltern starben bei der Hungersnot im
vergangenen Winter. ... Doch auf den Einfall, sie einzulassen, verfiel ich
nicht.“
„Es war mir unangenehm vor
Awin. Doch sie sah es Isa großzügig nach. ... Du ahnst nicht, wie sie sich
gebärdete, als wir sie wieder fortzuschicken gedachten. Awin befürwortete
schließlich, dass sie bleiben könne.“
Joan lacht. „Jetzt wirst du sie
wohl nicht mehr los!“
Blanche zuckt die Schultern.
„Wenn sie älter ist, werde ich sie mit kleineren Aufgaben betrauen. Sie ist
schlau wie ein Fuchs. Vielleicht bringt sie es eines Tages noch bis zur
Großmagd.“
Isa und Sophia kommen heran und
setzen Blanche gleich beide Blumenkränze aufs Haupt. „Mutter, du siehst schön
aus“, ruft Isa verzückt. „Trägst du sie zu eurer Vermählung?“
Joan macht große Augen. Fragend
blickt sie Blanche ins schamesrot anlaufende Gesicht. „Ist das wahr?“
Diese nickt. „Dein Vater fragte
mich vorgestern.“
Joan umarmt sie freudig. „Eine
Stiefmutter stellte ich mir zwar stets älter, streng und hässlich vor ...“,
feixt sie gutmütig. „Ich freue mich für euch von ganzem Herzen.“
Blanche betrachtet sie
lächelnd. „Dass du das sagst, bedeutet mir viel.“
Sie schweigen einträchtig.
Sophia hockt sich neben Joan und lächelt sie vertrauensvoll an.
„Ich sehe, es geht dir gut,
Sophia“, bemerkt Joan freundlich, worauf das Kind nickt. „Kribbeln und brennen
deine Hände noch?“
Sophia reißt verwundert die
Augen auf. „Nein. ... Es hatte langsam aufgehört, als ich im Stall lebte“,
erwidert sie knapp, da sie bereits wieder von Isa weggezerrt wird, die mit ihr
zusammen ihr Unwesen treiben will. Joan blickt der Kleinen nachdenklich
hinterher. Sie hat nun keine Zweifel mehr, dass das Kind am Antoniusfeuer litt.
Es ist ihr ein Rätsel, wie sie einfach davon genesen konnte. Vielleicht hängt
es damit zusammen, dass sie im Stall ausreichend zu essen bekam. Joan nimmt
sich vor, ihre Beobachtungen aufzuschreiben.
Ein unterdrückter Schrei lässt
sie aufhorchen. Verwirrt sehen sie in Richtung des Waldrandes, von welchem er
kam. Joan reißt ungläubig die Augen auf, als sie dort eine verlumpte Gestalt
gewahrt, welche hinter Malcom kauert und ihm ein Messer an die Kehle gesetzt
hat. Die Männer laufen aufgescheucht hinzu und umringen die beiden unschlüssig.
„Mein Gott, was ist da los“,
haucht Blanche entsetzt.
Joan ist bereits aufgesprungen.
„Bitte achte auf meine Kleinen, Blanche“, ruft sie aufgewühlt, um dann so
schnell sie ihre Beine tragen zu dem Menschenauflauf zu hasten. Atemlos drängt
sie Rupert und Leroy beiseite und erstarrt wie vom Donner gerührt.
Als sie sich vom ersten Schock
erholt hat, räuspert sie sich. „Jacob, nimm das Messer weg, um Himmels Willen.“
Sie versucht, ganz ruhig zu bleiben. Die Angst um Malcom droht sie zu
paralysieren. Fassungslos starrt sie auf Jacob herab, der vor Magerkeit, welche
der Schmutz auf Haut und Lumpen nur schlecht zu verstecken vermag, kaum
wiederzuerkennen ist. Er muss etwa in Amáls Alter sein, doch sein langer Bart
lässt ihn viel älter erscheinen. Ein übler Geruch geht von ihm aus. Er stiert
sie überrascht an.
„Joan“, haucht er und schüttelt
ungläubig den Kopf. „Wo warst du all die Jahre. ... Wir dachten,
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