Die rote Halle
Janina ihm hinterher.
Doch er wartete nicht.
»Du hast keine Zeit, dich bei dieser Inszenierung nebenbei noch um
ein Kind zu kümmern. Er muss weg! Bring ihn zu Freunden, oder was weià ich
was.«
Josef Rost holte Luft, wollte weitersprechen.
»Halt! Stopp!«
Zu Janinas Ãberraschung hielt Rost tatsächlich inne. Sein eines Auge
wanderte ein Stück nach auÃen, bevor es seine Blickrichtung wieder mit dem
anderen Auge synchronisierte, und beide Augen sie abwartend anstarrten.
Janina starrte zurück, sprach, so ruhig sie konnte, aber ihre Stimme
zitterte, und die Lautstärke lieà sich auch nicht richtig regulieren.
»Es ist schon ein ganz schönes Ding, mir ohne Vorwarnung
ausgerechnet Dave Warschauer vor die Nase zu setzen. Aber kann es tatsächlich
sein, dass du eben zu mir gesagt hast, mein Sohn muss weg, ohne ihn auch nur
anzusehen? Hast du eigentlich noch alle Tassen im Schrank?«
Rost stierte Janina an, holte aus, wie um zuzuschlagen. Doch die
Bewegung endete in einem Rudern und Tasten, die Hand fand eine Stuhllehne, zog
den Stuhl näher, damit er sich darauf fallen lassen konnte.
Janina sprach jetzt leiser weiter.
»Josef, wir haben doch deswegen telefoniert. Ich habe dir doch
vorher gesagt, dass ich ihn mitbringe.«
Rost nickte dazu, mechanisch wie eine Puppe, nickte immer weiter.
»Was soll ich jetzt tun? Soll ich wirklich wieder gehen?«
Rosts Nicken ging in Kopfschütteln über.
»Nein. Ich brauche dich hier. Viel dringender, als du glaubst. Ich
werde mich bei Simon entschuldigen, in Ordnung?«
Janinas Wut verflüchtigte sich zu einem dünnen Rest und machte der
Sorge um ihren alten Freund und Mentor Platz. Einen leichten Silberblick hatte
Rost schon immer gehabt, und er war auch schon immer fordernd gewesen. Zudem
hatte er die emotionale Intelligenz einer Schwarzen Witwe. Aber das wandernde
Auge, das Schwitzen, die Magerkeit, das war neu. Und er hatte noch nie zuvor
Simon schlecht behandelt. Niemals.
»Josef, kann ich dir irgendwie helfen?«
Rost schüttelte müde den Kopf, stand auf und legte Janina kurz aber
fest eine Hand auf die Schulter.
»Danke, Janina. Ich weiÃ, dass ich auf dich zählen kann. Auf dich
und Dave. Nimm es mir nicht übel, ich brauche euch beide für diese Sache.«
Janina seufzte. Na schön. Dann war das eben so. Sie würde damit
klarkommen.
»Gut. Ich bin dabei, wenn du die Sache mit Simon regelst. Morgen
hole ich die Tanzschuhe ab.«
Rost nickte, aber sein Blick war wieder wie aus Glas und glitt zur
Seite ab.
Plötzlich, auch diesmal durch Glasscheiben getrennt, war
er wieder da, der Junge von letzter Nacht. Die Sonne malte bleiche Flecken auf
die marmorierten Steinplatten am Boden des Transitgangs und auf das weiÃblonde
Haar des Jungen, der mit dem Rücken zu Simon stand und auf das Flugfeld
hinausblickte.
Simon war gerannt, um möglichst schnell möglichst weit von Josef
Rost wegzukommen und irgendwo in diesem verfluchten Flughafenlabyrinth seine
Wut hinauszuschreien. Er hatte ihn nicht einmal begrüÃt. Er hatte ihn nicht
einmal angesehen. Er hatte über ihn gesprochen, als ob er gar nicht da wäre.
Seine Hände waren Steine, Faustkeile, mit denen er seinem ehemaligen Ziehvater
am liebsten die Zähne eingeschlagen hätte, und je schneller er rannte, desto
härter und schwerer wurden sie.
Doch jetzt blieb er abrupt stehen.
Der Junge, der seine Bewegung aus dem Augenwinkel wahrgenommen haben
musste, drehte sich um. Sein Mund stand offen, und Simon erkannte, dass ihm die
oberen Schneidezähne fehlten. Er drückte gegen die Tür, die ihn vom Transitgang
trennte. Verschlossen. Der Junge zog sich, grinsend jetzt, rückwärts durch den
endlosen, geschwungenen Gang zurück. Verschwand hinter der Biegung.
Simon trat frustriert gegen den leeren Cola-Automaten neben der Tür.
Aber warum sollte er dem Jungen überhaupt folgen wollen, was wollte
er von einem Irren ohne Zähne? Nichts, sagte er sich selbst. Gar nichts. Es
ärgerte ihn nur, dass er sich nicht frei bewegen konnte. Es ärgerte ihn, dass
er sich hatte überreden lassen, überhaupt mit nach Berlin zu kommen. Dass Josef
Rost so ein Arschloch war und er es vorher schon gewusst hatte. Und dass seine
Mutter nur daran dachte, dass er nachts nicht im Bett gewesen war, wenn er ihr
gerade sagen will, dass ein anderer, wahrscheinlich drogensüchtiger Junge,
jünger als er,
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