Die rote Halle
kleinen, adretten Sprünge und Pirouetten absolviert.
Alles höchst anständig. Aber ich habe noch nie zuvor die Blicke so intensiv
gespürt.
Josef hat zugesehen, er ist Zeuge. So wie ich anschlieÃend
Zeuge wurde, als er dran war. Eine geheime Verbindung auf Lebenszeit.
Ich sehe nur einen einzigen Weg, die Verbindung zu kappen.
Heute Abend. Ich muss nur den Mut finden, mich dem zu stellen. Die Konsequenzen
zu ziehen. Keine Tanzkarriere. Kein Leben voller Schuld und Scham.
TAG 10 â VERGESSEN
Janina blickte mit leichtem Schwindel nach oben zu den
Stahlträgern unter der Decke der Halle, wo die Schaukel befestigt war. Es war
dasselbe Prinzip wie auf dem Spielplatz. Sie hatte noch ganz deutlich vor
Augen, wie Simon sich mit sieben oder acht Jahren mit der Schaukel um die
eigene Achse gedreht hatte, bis er mit den FuÃspitzen kaum noch den Boden
berührte. Und dann hatte er losgelassen, hatte sich gedreht, rasend schnell,
erst in die eine Richtung, bis die Schaukel langsamer wurde, für einen kleinen
Moment stillstand, und dann ging es in die andere Richtung. Manchmal hatten sie
beide einen Wettbewerb gemacht, wer es länger aushielt, und je schneller Janina
sich gedreht hatte, desto stiller war es in ihr drin geworden. Aber Simon hielt
länger durch. Sein Rekord lag bei fünfunddreiÃig Minuten.
Das hier war dasselbe. Nur dass hier kein Kind in einer Schaukel
herumgewirbelt wurde, sondern eine Tänzerin. Und dass an den Schaukelketten
Knüppel und Klingen befestigt waren, die von der Zentrifugalkraft in die
Waagrechte gehoben würden, gefährlich, potenziell tödlich. Wie konnte so etwas
vom Bühnenmeister einfach so abgenommen werden?
»Hey, Vorsicht!«
Josef Rost grinste wie ein Irrer, als er mit graziös gekreuzten
Beinen dicht an Janina vorbeischaukelte.
Sie schüttelte den Kopf, steckte die Fäuste in die Hosentaschen und
zog die Schultern hoch, tastete nach dem Handy, das sie auf Vibrationsalarm
gestellt hatte. Falls Simon während der Probe anrief. Falls er sich meldete.
Falls er sich endlich meldete â würde sie rangehen. Es war ihr egal, ob Josef
einen Anfall bekommen würde oder sie rausschmiss.
»Wir machen heute Nachmittag weiter«, sagte er im Zurückschaukeln.
»Ihr könnt euch alle verziehen.«
Die Tänzer zogen sich zurück, und auch Janina wollte gehen, aber
Rost hielt sie auf.
»Janina! Sag Matti, ich brauche ihn hier. Er soll mehr Knüppel und
Beile und so mitbringen. Das ist so noch nichts. Das muss hier nur so starren
vor Waffen.«
»Josef, ich weià nicht, ob der Bühnenmeister das abnehmen wird.«
»Da scheià ich doch glatt drauf, und du weiÃt auch, warum«, sagte
Rost und lächelte huldvoll.
Dann fuhr er fort, wie Heidi hoch bis in den Himmel zu schaukeln.
Kopfschüttelnd verlieà Janina die rote Halle. Hauptsache, er kam
nicht auf die Idee, wie Heidi einfach abzuspringen, um auf einer Wolke zu
landen.
Sie hätte Matti einfach anrufen können, aber es tat Janina
gut, ein wenig zu laufen und sich nicht immer nur in ihrer Kostümabteilung
aufzuhalten und auf einen Anruf von Simon zu warten.
Auf dem Weg in die Werkstatt zog sie sich eine Flasche Mineralwasser
aus einem Automaten und trank sie in einem Zug aus.
Die Werkstatt lag im ersten Untergeschoss, und man erreichte sie
über einen der Höfe an der AuÃenseite des Flughafens, die Janina den
»Burggraben« nannte. Sie war viel zu groÃ, unübersichtlich und chaotisch für so
eine kleine Bühne wie die rote Halle, aber sie wurde nicht nur von ihnen,
sondern von vielen Leuten benutzt, die hier ein Event vorbereiteten. Ãberall
standen überfüllte Regale, Farbeimer, Gipssäcke, Trennwände, Werkzeugkästen,
Kabeltrommeln, Bierdosen, Aschenbecher und unendlich viel Kleinkram wie
Gaffatape, Schraubenzieher, Christbaumkugeln oder Taschenlampen herum. Auf
einer Sägebank entdeckte Janina sogar einen Haufen Handschellen. Hoffentlich
hatte Josef die nicht für ihre Inszenierung bestellt, hoffentlich gehörten die
jemand anderem. Seine Einfälle wurden mittlerweile so brutal und ekelhaft, dass
sie einen Flop befürchtete.
»Hallo?«, rief sie in die Winkel und Ecken der Werkstatt hinein.
»Matti?«
Es schien niemand hier zu sein.
Janina lieà sich auf einen staubigen Hocker fallen und zog das Handy
aus der Hosentasche. Die Bewegung war mittlerweile zu einem Reflex
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