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Die rote Halle

Die rote Halle

Titel: Die rote Halle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karla Schmidt
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dehnte sich aus, zog sich zusammen. Und dann meinte
er, eine Bewegung dort wahrzunehmen.
    Simon wischte die Tränen am Ärmel ab, sah wieder scharf, sah genauer
hin. Konnte das Rose gewesen sein? Wenn ja, dann müsste sie noch dort sein,
dann konnte sie nicht so schnell wieder verschwunden sein. Aber was sich dort
bewegt hatte, war viel zu klein gewesen, viel zu schemenhaft. Simon drückte
gegen die Glastür. Sie war noch immer offen, zum Glück, denn seinen immensen
Schlüsselbund hatte er nach der letzten Nacht voller Reue heimlich
zurückgelegt. Er hatte nicht vor, noch einmal die verbotenen Bereiche des
Flughafens zu erkunden, davon hatte er genug.
    Seine Schritte knallten viel zu laut durch die Schalterhalle, als er
zum Gepäckförderband hinüberging, und er bemühte sich, nur mit den Zehenspitzen
aufzutreten, so als ob er sich anschleichen müsste.
    Erst ging er einmal um das Gepäckförderband herum, konnte aber
nichts Ungewöhnliches entdecken. Er setzte sich hin, ans obere Ende des Bandes,
das sich aus dem Boden hervorreckte, starrte Richtung Schlund, dorthin, wo Rose
verschwunden war.
    Und dort war wirklich etwas, eine kleine, zitternde Bewegung. Simon
beugte sich vor, kniff die Augen zusammen. Eine Ratte.
    Warum auch nicht, immerhin war dies ein aufgegebener Flughafen, und
Ratten mochten dunkle Gänge und Plätze, an denen sie nicht gestört wurden. Und
an denen sie Essbares fanden.
    Der Gedanke war pervers. Er musste es wissen, musste wissen, ob Rose
da drin war.
    Auf allen vieren kroch Simon das Förderband hinab. Die Gummilamellen
strichen ihm klebrig über den Nacken, dahinter war es eng und dunkel. Simon zog
sein Handy aus der Tasche und schaltete das Display an, während er auf den
Ellenbogen voranrobbte. Tiefer in die Eingeweide des Flughafens hinab.

TEIL II

1996 – SEBASTIAN KÖRNERS TAGEBUCH, LETZTER EINTRAG
    Ich bin so froh, dass ich dieses Stadium hinter mir habe.
Nie mehr Pubertät, nie mehr Pickel, nie mehr dieser perverse Körpergeruch. Ich
hasse Kinder, ich kann mit ihnen nichts anfangen.
    Aber dieses Kind war schön. Schwarzes Haar, irgendwie zu große
     Hände, eine breite Brust. Goldene, glatte Haut.
    Ob Josef wusste, was uns erwartete? Er schwört, dass er
ahnungslos war. Er sagt, er fühlt sich genauso beschissen wie ich. Aber wenn
ich daran denke, wie er neben mir gesessen hat, schwitzend, während der Junge
sich vor uns drehte …
    Zwölf Jahre, schätze ich. Sehr professionell. Siebzehnter
Stock, cremefarbene Vorhänge, ein anonymes Geschäftsgebäude. Ledersessel zu
einem Halbrund zusammengeschoben. Außer uns noch drei Typen. Wir sind einander
nicht vorgestellt worden.
    Okay. Ich muss das aufschreiben, auch wenn ich kotzen könnte.
Dieser Junge, sehr, sehr große, dunkelbraune Augen, Rehblick, ein richtiges
Bambi, Unschuld in Person. Ich konnte nicht wegsehen. Als sein Tanz intensiver
wurde, schloss er die Augen. Ich war froh, dass er nicht sah, wie ich sah. Wie
er mir gefiel.
    Das war Talent, richtiges Talent, nichts, was man jemandem
beibringen könnte. Es war einfach da, der Tanz kam von innen. Man muss die
Musik fühlen, man muss zu den Trommeln werden, zu den Streichern … Aber er hat
mir nicht deswegen gefallen.
    Vielleicht war das nur die Situation, die Selbstverständlichkeit,
mit der das alles vonstattenging, als ob gar nichts Böses dabei wäre. Ich bete
darum, auf den Knien, und ich glaube nicht mal an Gott.
    Dann kam er auf mich zu. Die Augen jetzt geöffnet, verletzlich,
unfassbar schön. Wimpern. Wangenknochen wie aus Porzellan. Ein sehr sanftes
Flüstern, du zuerst. Und dann kniete er sich vor mich hin und … ich kann es
nicht hinschreiben.
    Die Herren in ihren Designeranzügen haben zugesehen. Ich
glaube, ich gehörte zur Inszenierung. Vielleicht, weil mein Körper durchs
Tanzen in Form ist.
    Ich habe mich überwältigen lassen. Ich habe mich verloren. Den
verloren, der ich war. Jetzt bin ich jemand, den ich steinigen würde, wenn man
mir die Gelegenheit dazu gäbe. Jetzt bin ich einer, der nicht weiß, wie er
weiterleben soll mit dieser Entdeckung, die sich nicht abwaschen lässt, egal
wie heiß das Badewasser ist, und wenn ich jahrelang hier in der Wanne sitze.
    Heute Abend auf der Bühne, bei der Cenerentola-Premiere, habe
ich getanzt wie alle anderen, wie alle anderen habe ich auf der Bühne meine
Runden gedreht, meine

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