Die rote Halle
denn jetzt wieder?«
Er nickt. »Ich hab nur Durst.«
»Ich hab Wasser im Rucksack. Komm.«
Und dann sieht sie sich nach Josef um. Er steht immer noch mit
offener Hose da. Janina schaut wieder weg. Sie hat einen halben Ständer
gesehen. Zusammen mit Simon verlässt sie das Herrenklo.
Janina holte eine Rolle Küchenkrepp und einen nassen Lappen
aus der Teeküche, um die Sauerei auf DeeDees Hose wegzumachen. Sie hatte es
damals nicht sehen wollen. Sie hatte bewusst weggeschaut und das Bild in ihrem
Kopf nie wieder hervorgeholt.
Für mich ist Joe ein beschissener Kinderficker.
War das nur ein Kraftausdruck? Oder die schlichte, schreckliche
Wahrheit? Hatte Rost sich an ihrem Sohn vergriffen? Hatte Simon deswegen so
dringend fortgewollt?
Mami, sei nicht böse.
Mami. Das war der kleine, verletzte Junge, der da sprach.
Zu dem, was Janina damals im Tiergarten gesehen hatte, kamen neue
Bilder hinzu, Bilder, die sie sich nicht vorstellen wollte, die nicht wahr sein
durften.
Sie biss sich in die Hand, als ein Schluchzen in ihr aufstieg. Aber
wozu, wozu sollte sie es unterdrücken? Sie lieà es einfach laufen und heulte,
mit beiden Händen auf den schwankenden Bügeltisch gestützt. Ihr ganzer Körper tat
weh, und sie wand sich unter dem Ansturm. Aber nicht lange. Sie hatte keine
Zeit für Selbstmitleid.
Sie musste mit Simon reden. Sie musste wissen, ob Rost es verdiente,
an seinem eigenen Schwanz zu ersticken.
Aber Simon ging nicht ans Telefon. Und er ging nicht ran. Und er
ging nicht ran.
Janina verspürte den Reflex, das Handy gegen die Wand zu schmettern,
mit beiden FüÃen darauf herumzuspringen, es aus dem offenen Fenster zu werfen.
Sie musste irgendetwas tun. Irgendwas, das diese Ungewissheit beendete. Und
dafür gab es im Moment nur eine einzige Möglichkeit: Josef Rost.
Die Jalousien waren runtergelassen, sperrten das schmerzende
Licht der tief stehenden Sonne aus, und die Kopfhörer umschlossen seine Ohren
wie sanfte, warme Hände. Die Bässe übten Druck aus, hielten seinen Kopf
zusammen.
Rost füllte im Dunkeln ein Glas mit Wasser und drückte sich zwei
Tabletten in die geschwollene Handfläche. Nein. Drei. Schluckte sie. Er musste
schlafen, und das ging nicht, wenn die krabbelnden, sengenden, nagenden Schmerzen
seine Beine rauf- und runterkrochen wie Ameisen, die ihn bei lebendigem Leib
auffraÃen und in den Wahnsinn trieben. Er legte sich in Fötushaltung auf sein
Bett, die tat am wenigsten weh, und wünschte sich, er hätte so einen Arzt wie
Michael Jackson gehabt, der seine Venen mit Propofol oder Demerol vollpumpte.
Entspannen Sie sich, sagte Michaels süÃer Knabenalt in seinem Kopf. Ich werde
Ihnen nicht wehtun. SchlieÃen Sie einfach die Augen. Zählen Sie bis zehn, Sie
werden die Nadel gar nicht spüren. Nein, nicht weinen, ich werde nicht
versuchen, Sie davon abzubringen. Sie brauchen keine Angst zu haben. SchlieÃen
Sie einfach die Augen, driften Sie einfach davon ⦠Ein sehr vernünftiger Arzt.
Einer, der keine Probleme mit richtigen Drogen hatte. Der seine Patienten nicht
leiden lieÃ.
Rost versuchte, sich der Musik und der viel zu sanften Wirkung der
viel zu niedrig dosierten Tabletten hinzugeben, sich im Rhythmus der pumpenden
Bässe zu verlieren. Aber etwas störte ihn dabei. Ein Pochen, Klopfen, Hämmern.
Vielleicht sollte er noch eine Tablette nehmen. Er setzte sich auf. Es ging
auch ohne Wasser.
Dann wieder: ein Hämmern, das sich nicht in den Rhythmus der Bässe
fügte. Es erschreckte ihn, lieà sein Herz schneller schlagen.
Dann öffnete sich in der dunklen Wand ein helles Rechteck, und Rost
musste an unheimliche Begegnungen der Dritten Art denken. Schnell hinlegen!
Augen fest schlieÃen! Nicht hinsehen!
In seinem Kopf, ganz dicht hinter den Bässen, sprach eine Frau.
»Hast du nicht gehört, was der Arzt gesagt hat?«
Streng. Schrill.
»Josef! Wie viele davon hast du denn genommen?«
Und dann waren die Bässe weg, und er fühlte sich fallen, rollte sich
zu einer Kugel zusammen, zu einer Kanonenkugel, die abwärts rast. Eine rote
Kanonenkugel. Sie würde die schrille Stimme treffen, und dann würde sie still
sein. Hände zu Fäusten, Rücken zur Faust, Augen zu Fäusten, alles zur Faust!
»Sieh mich an!«
Er gehorchte.
Janina hielt seine Kopfhörer in den Händen. Er streckte eine Hand
danach aus, flehend. Er brauchte
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