Die rote Halle
der Kleingartenkolonie unterwegs waren, aus dessen Teich letzte
Nacht der alte Mann gerettet worden war. Sie war Simon so nahe gewesen, ohne es
zu wissen! Es war immer noch früh, aber die Luft war nach wie vor dick und
drückend, und Janina schwitzte jetzt ebenso aus Angst wie wegen der Hitze.
Als sie die Tennisplätze hinter sich gelassen hatten und der Asphalt
Schotter und Schlaglöchern wich, sahen sie es: Vor dem Tor der Kolonie stand
bereits Polizei.
Es war nicht einfach nur ein Streifenwagen, dessen Fahrer eine
Rauchpause machte. Es waren drei, einer davon ein groÃer Einsatzwagen, Leute
mit Latexhandschuhen liefen herum. Leute mit Funkgeräten. Leute mit Waffen. Und
da war rot-weiÃes Band mitten über den Weg gespannt.
DeeDee, die vorausgegangen war, wurde langsamer, blieb zurück. Sie
wirkte wachsam, wie auf dem Sprung.
»Sieht aus, als hätten wir ein Problem«, sagte Kommissar Schulz und
steuerte auf einen Polizisten am Absperrband zu, zeigte seinen Dienstausweis
und redete leise mit ihm.
Janina verstand nicht, was geredet wurde, obwohl ihre Sinne bis zum
ÃuÃersten gespannt waren und sie ihre Umgebung überdeutlich wahrnahm: den
stahlblauen Himmel, den Autolärm, der vom Columbiadamm herüberdrang, das Pocken
der Tennisbälle beim Aufschlag, die Elster in der Fichte direkt über ihr, ihren
eigenen Herzschlag. Dave, der nach ihrer Hand griff und sie drückte.
Kommissar Schulz kam zurück, und sein Gesichtsausdruck zeigte
deutlich, dass er etwas Unangenehmes zu sagen hatte.
»Es tut mir leid, das wird jetzt für Sie schwierig, aber wir müssen
Sie um etwas bitten.«
Als niemand etwas sagte, fuhr der Kommissar fort.
»In der Anlage wurde eine Leiche gefunden. Ein Junge, etwa fünfzehn
Jahre alt.«
Janina hörte die Worte, aber sie verstand sie nicht. Neben ihr sank
DeeDee auf die Knie und fing an zu wimmern wie ein verletztes Tier. Sie
schüttelte den Kopf und wiederholte immer nur ein Wort, »bitte, bitte, bitte«,
und Daves Griff wurde immer härter, bis Janina vor Schmerz aufstöhnte.
»Wir wissen nicht, ob es sich um Ihren Sohn handelt. Aber wir müssen
sichergehen. Wir möchten, dass Sie sich den Jungen ansehen. Meinen Sie, Sie
schaffen das?«
Janina wusste nicht, ob sie das schaffen würde. Sie wusste nicht
einmal, ob sie in der Lage war, den nächsten Atemzug zu tun, oder ob sie einen
Fuà vor den anderen setzen konnte.
»Wo ist er?«, hörte sie Dave sagen.
»Sie haben ihn aus dem Teich geholt. Kommen Sie. Hier entlang.«
Der Kommissar fasste Janina vorsichtig am Ellenbogen, wie man eine
alte Frau stützt, die sonst stolpern oder fallen könnte.
»Ich will nicht«, hörte sie DeeDees tonlose Stimme hinter sich. »Ich
kann das nicht. Ich ertrag das nicht. Ich will hier weg.«
Der Kommissar drehte sich zu ihr um. »Es tut mir leid, aber ich kann
Ihnen das nicht ersparen.«
Er nickte einem Polizisten zu, der in der Nähe stand, damit er
DeeDee begleitete. Sie lieà den Kopf hängen wie jemand, der zum elektrischen
Stuhl geführt wird.
Janinas Beine bewegten sich ebenfalls, die Knie beugten sich, die
FüÃe fanden die Stufen, die zum Teich hinabführten, und da standen Leute,
liefen herum, sie schienen alle nach etwas zu suchen, und ihre Körper verdeckten
das, was in ihrer Mitte lag.
Dann entstand eine Lücke, jetzt sah sie ein Bein, weiÃ, dunkle
Flecken, ein Jungenbein im grünen Gras, dann eine Hand, wie eine geöffnete
Schale, bereit, zu empfangen.
Janinas Knie knickten ein, und sie musste sich auf die Treppenstufe
setzen, auf der sie gerade stand.
Etwas kitzelte ihre Kehle, und das Geräusch, das daraus emporstieg,
erkannte sie als Lachen. Ein Lachen ohne Luft, weil keine Luft mehr in ihren
Lungen war, die rausgekonnt hätte. Sie wollte einatmen, aber sie brauchte
mehrere Sekunden, um sich daran zu erinnern, wie das funktionierte. Dann
endlich strömte Luft ein, die sie zum Sprechen benutzen konnte.
»Das ist nicht Simon«, sagte sie.
Sie war sich ganz sicher. Das gebleichte Haar, die dünnen Arme, die
groÃe Nase. Das war nicht Simon. Das war ein anderer Junge.
»Sind Sie sicher?«, fragte der Kommissar. »Wollen Sie nicht näher
rangehen?«
Janina schüttelte den Kopf.
»Ich bin mir sicher. Das ist nicht mein Kind. Das ist ein anderes
Kind.«
Und dann fing sie an zu weinen, so hart und krampfhaft, dass es
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