Die rote Halle
Rost.«
»Ich habe es erst heute erfahren, aber sie war schon zwei Mal in
einer psychiatrischen Anstalt. Können Sie sie nicht richtig verhören?«
»Das werde ich. Aber ich denke, wir sollten hier sehr vorsichtig
vorgehen. Strategisch. Gerade wenn sie labil ist.« Der Kommissar gab Janina die
Hand. »Wenn Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich an. Ich werde mich jetzt
erst einmal um Herrn Rost und seine Villa kümmern.« Er hielt ihre Hand länger
fest als nötig, sah ihr in die Augen.
»Werden Sie klarkommen?«
Klarkommen? Nein, wie sollte sie mit dieser Situation klarkommen.
Sie war undenkbar, niemand konnte damit klarkommen. Aber sie brauchte Hilfe,
und er half. Sie würde es ihm nicht schwerer machen.
»Ja. Ich schaffe das schon. Vielen Dank.«
Janina sah ihm nach, als er ging. Sie merkte, dass sie ihm vertraute.
Er würde Simon wiederfinden.
»Kommst du mit?«, fragte Dave, der neben ihr stehen geblieben war.
»Zu Rost?«
»Aber was ist mit DeeDee? Wer achtet auf DeeDee? Ich traue ihr
keinen Meter mehr über den Weg.«
Der tote Junge wurde den Plattenweg hinaufgetragen. Und DeeDee stand
immer noch unten am Teich, starrte aufs Wasser, vollkommen in Gedanken
versunken.
»Die läuft uns nicht weg. Dann müsste sie ja die Kontrolle
aufgeben«, sagte Dave verächtlich.
Wahrscheinlich hatte er recht. Trotzdem hatte Janina kein gutes
Gefühl dabei, sie einfach sich selbst und ihren Lügen zu überlassen.
»Denkst du, was ich denke?«, fragte Dave.
»Was?«
»Dass die Inszenierung geplatzt ist. Rosts letztes groÃes Werk ist
beim Teufel. Es wird nie zur Aufführung kommen.«
Janina zuckte die Achseln.
»Mir tut es nur leid, dass ich nicht viel früher zur Polizei
gegangen bin.«
»Warum bist du nicht?«
»Ich habe ihr geglaubt.«
Dave seufzte. »Und ich habe Rost geglaubt. Dass es nie wieder
vorkommt. Dass es nur ein Ausrutscher war, ein Fehler. Er war sich so sicher.
Und ich auch.«
»Vielleicht, weil er sterben muss.«
Daves Gesicht blieb hart.
»Gehen wir hin. Fragen wir ihn selbst.«
DeeDee lieà sich Zeit. Während die Polizei das Ufer absuchte
und mit ihren Netzen im Teich herumfischte, blieb sie regungslos wie ein Tier.
Niemand nahm Notiz von ihr, obwohl sie sichtbar am Grund dieses Kessels stand,
in den sie hineingeraten war.
Es war nur ein verdammter Zufall. Ein schwieriger Zufall, und es
fiel ihr so schwer, stillzuhalten. Sie musste die Sache zu Ende bringen. Wenn
sie zu lange hier verharrte, würde man sie fortschicken. Und dann fand sie
vielleicht keine Möglichkeit, ungesehen zurückzukommen.
Sie wartete, ohne hinzusehen, erspürte den richtigen Moment. Jetzt.
Sie sah nicht auf, denn ein Blick konnte andere Blicke anziehen. Sie drehte
sich einfach um und zog sich zurück, ging an der Hütte vorbei, die der
Kommissar aufgebrochen hatte, ging tiefer ins Grün hinein, zwischen die Bäume.
Wartete, während Worte sich zwischen ihren Zähnen herauspressten, sie konnte
sie nicht bei sich behalten, sie hätten sie sonst von innen zerrissen. Und es
war gut, diese Worte zu sagen. Sie halfen ihr, sich auf das Wesentliche zu
konzentrieren. Auf das Einzige, worauf es ankam.
»Es ist meine Inszenierung, es ist mein Stück.«
Sie blickte sich um, lauschte. Es war niemand in der Nähe, niemand
in Sicht- oder Hörweite.
Schnell zog sie den Schlüssel aus der Tasche, öffnete das Schloss,
schlüpfte in den Schuppen und verschloss ihn von innen.
Hier, im Halbdunkel, kamen die Tränen. Sie lieà sich gegen den
Jungenkörper auf den nackten Erdboden fallen, sie brauchte das jetzt, benutzte
seine Hand, um sich zu befriedigen, und stürzte durch die Zeit zurück. Sie war
wieder dort, wo sie schon tausende Male gewesen war, um sich immer wieder zu
versichern, dass sie sich nicht täuschte. Dass ihr zustand, was sie verlangte.
Berlin 1996, hinterm Gorki Theater. Ein kalter Frühlingstag,
und der Choreograph ist ein zynischer, hässlicher Kerl mit fettigen Haaren, ein
Provokateur, ein Anarchist und ein verdammtes Genie. Aber er ist ein Nichts,
ein Niemand gegen seine bedeutendste Entdeckung, gegen Dave Warschauer. Ahh,
Dave! Da lehnt er, am Hinterausgang, schwarzes Rüschenhemd, enge Lederhosen. So
schön â Junge und Mann, zerbrechlich und stark. Sie fühlt, dass sie von
derselben Art sind. Sie werden einander
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