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Die rote Halle

Die rote Halle

Titel: Die rote Halle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karla Schmidt
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nicht.«
    Â»Du ruinierst dir das Kostüm.«
    Als sie den Stoff in den Mund nimmt, um das Blut herauszusaugen,
wendet Dave sich ab und geht hinein.
    Er hatte von Anfang an nicht vorgehabt, sein Versprechen
zu halten. Es hatte keinen Sinn mehr, sich etwas vorzumachen. Aber der Schmerz
über seinen Verrat ließ einfach nicht nach, und sie griff sich mit beiden
Händen ins Gesicht, krallte sich in ihre Haut, riss sie auf. Er wollte nicht
mit ihr tanzen, weil sie ein Krüppel war. Und es war seine Schuld, dass sie ein
Krüppel war. Und wieder zerschnitt Metall ihr Gesicht, wieder spürte sie die
Messer, die sich in ihr Fleisch senkten. Und dann, als der Schmerz am größten
war, war er vorbei.
    Plötzlich befand DeeDee sich an einem Ort absoluter Klarheit. Sie
würde sich nie wieder selbst verletzen. Sie würde nicht mehr büßen für das, was
man ihr angetan hatte. Ab jetzt würden die anderen büßen. Sie wusste genau, was
sie zu tun hatte. Jetzt sollte er sehen, was er davon hatte. Er würde es sehen.
    Janinas Augen brannten, aber sie konnte sie nicht schließen.
Am frühen Abend hatte Kommissar Schulz angerufen und mit ruhiger Stimme
erklärt, Simon sei nicht in Rosts Villa. Und es gebe auch keinen Hinweis
darauf, dass er sich dort aufgehalten hätte. Aber man habe einen verschlossenen
Schrank mit Kinderpornos gefunden.
    Rost war nach wie vor nicht bei Bewusstsein. Janina glaubte nicht,
dass er noch einmal aufwachen würde. Sie war mit Dave im Krankenhaus gewesen,
und Josef hatte unter der weißen Decke gelegen, ein Schlauch im Arm, einer in
der Nase, Kabel auf der Brust, die Augen schwarzblau unterlaufen, er war fast
verschwunden in dem riesigen Bett. Wie konnte man nur innerhalb eines Tages so
sehr schrumpfen?
    Ihre Augen blickten auf weiße Hügellandschaften, auf ihre eigene
Bettdecke, sie blinzelte nicht. Da war Dave, direkt neben ihr. Er war immer
noch da, real, unmittelbar vor ihren Augen. Und als helles Nachbild, wenn sie
die Augen zwischendurch kurz schließen musste.
    Sie hatte die letzte Nacht nicht geschlafen, sie hatte am Tag nicht
schlafen können, und jetzt konnte sie ebenfalls nicht schlafen, obwohl sie, wie
Dave, zwei Tabletten genommen hatte. Sie schwitzte, Daves Körper strahlte die
Hitze eines Hochofens ab, sein Arm lag schwer auf ihren Rippen. Und dann hielt
sie es nicht mehr aus.
    Vorsichtig schob sie seinen Arm von sich runter und stand auf,
setzte sich in den Sessel, in dem sie ihre erste Fleisch- und Bohnenmahlzeit
hier gegessen hatte. Die Simon ihr aufs Zimmer gebracht hatte, als sie nach der
anstrengenden Reise einfach den Tag verschlafen hatte. Vielleicht würde er ihr
wieder etwas zu essen bringen, wenn es ihr nur gelang, all den Schlaf
nachzuholen, der ihr jetzt fehlte.
    Dave wälzte sich herum, sein Gesicht schimmerte im Licht der
Straßenlaternen, das von draußen hereinfiel. Sein Atem ging sanft und stetig,
die Haltung war nicht aufreizend, sondern schutzsuchend, die Decke um die
Ohren, die Knie zur Brust gezogen. Früher hätte Janina gesagt, Dave sei süß.
    Aber trotz seiner Körperhaltung hatte er jetzt nichts Jungenhaftes,
alles Zweideutige, das nicht nur sie so sehr fasziniert hatte, war ihm abhanden
gekommen. Er war einfach ein Mann, verzweifelt, wie sie.
    Sie dachte daran, wie sie die Nacht zuvor mit ihm geschlafen hatte,
unter freiem Himmel. Zwischen Grabsteinen. Und sie hatte keine Angst gehabt,
sich wieder an ihn zu verlieren. Sie hatte auch jetzt keine Angst. Keine Angst
mehr vor Dave, keine Angst mehr vor seinen Blicken. Es war nicht mehr dieses
aufgeschreckte Anhaften, nicht mehr diese sechzehn Jahre lang fortgesetzte
Verletzung ihres Selbstwertgefühls, die sie »Liebe« genannt hatte. Dave hatte
damals einmal kurz und sehr hart zugeschlagen. Die Dauer der Verletzung hatte
sie sich selbst zugefügt.
    Und nun, von einem Tag auf den anderen, hatte sie damit aufgehört.
Trotz der Angst um Simon fühlte sie sich plötzlich frei. Sie tat sich nicht
mehr leid. Nicht wegen ihm. Und auch nicht wegen Simons Verschwinden. Das
Einzige, was sie fühlte, war Klarheit. Eine Entschlossenheit, zu kämpfen. Sie
würde ihren Sohn wiederbekommen, was immer sie dafür zu tun hatte.
    Â»Bitte«, sagte sie leise und schloss die Augen. »Ich schwöre, ich
werde ihn loslassen. Aber zuerst muss ich ihn finden.«
    Sie hielt die Augen weiter geschlossen, das Brennen ließ nach,

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