Die Rote Spur Des Zorns
jetzt nicht aufstehen und joggen würde, dann schaffte sie es nicht pünktlich zur Veerhoos/James-Trauung. Die Braut in spe hatte die Feier als »Brunch-Hochzeit« bezeichnet, obwohl niemand vor zwölf zum Essen käme. Der Gottesdienst begann ja erst um elf. Clare hatte die Einladung zum Hochzeitsfest ausgeschlagen, damit sie nach den obligatorischen Erinnerungsfotos freihätte. Und später wollte sie nicht laufen; da wäre es schon zu heiß. Oder es würde regnen. Außerdem musste sie ihre Haushaltseinkäufe erledigen und ihren Wagen abholen.
Nach und nach kehrte die Erinnerung an den gestrigen Abend zurück; das Puzzlebild fügte sich zusammen. Die Kir royals. Hugh Parteger, die Durchsuchung von Malcolms Zimmer, das Küchenvordach. Was, um Himmels willen, hatte sie sich dabei gedacht? Dann die Nachhausefahrt mit Russ – nein, mit Chief Van Alstyne. Ihre Bemühungen, ihn auf Distanz zu halten, waren so fadenscheinig, dass sie beim Gedanken daran selbst höhnisch schnaubte.
Sie drehte sich auf die andere Seite und vergrub ihr Gesicht im Kopfkissen – versuchte, in dieser Position zu bleiben, bis ihr Gehirn abschalten würde. Aber sie bekam kaum Luft. Wenn sie nicht sofort aufstand und ihre Joggingschuhe anzog, dann würde nie etwas aus der Sache. Stöhnend kapitulierte sie vor den Anforderungen des Lebens und stieg aus dem Bett.
Sie hatte mehrere Priester und Seminaristen gekannt – Männer und Frauen –, die benutzten die Morgenstunden gern für Gebet und stille Einkehr. Sie selbst erzielte das gleiche Ergebnis durch Joggen. Ob Regen, ob Sonnenschein, ob es warm war oder kalt, irgendwann während ihrer fünf Meilen verflogen alle Fragen und Sorgen, die ihr im Kopf herumschwirrten wie ein Mückenschwarm, und sie fühlte diese schlichte, reine, glockenklare Verbundenheit mit der Welt ringsum, dem Wetter und ihren Bewegungsabläufen. Gott unmittelbar nahe zu sein, das hieß: den Moment erleben. Eine ihrer Freundinnen im Seminar hatte gemeint, Clare müsse eigentlich Buddhistin werden. Und einer ihrer Armeekameraden hatte ihr klar machen wollen, dass ihr spirituelles Erlebnis eher auf die Endorphinausschüttung als auf eine Verbindung mit dem Göttlichen zurückgehe. Clare war das gleichgültig. Sie nahm, was sie kriegen konnte. Sie würde sich mit jeder Art seelischer Ruhe und Gewissheit zufriedengeben.
Als sie ein paar Stunden später Michael Veerhoos und Delia James am Altar gegenüberstand, fühlte sie sich ausgeglichen. Braut und Bräutigam sahen einander ständig an, und ihre Mienen spiegelten so etwas wie ehrfürchtiges Staunen, dass sie tatsächlich diesen monumentalen Schritt unternahmen. Während der Fürbitte betrachtete Clare die Verwandten und Freunde – die Gesichter voll versonnenem Lächeln und stillen Tränen, die Art, wie Eheleute einen kurzen Blick wechselten oder Händchen hielten, als es hieß: »Schenke ihnen den Heiligen Geist, damit sie ihr Leben nach deinem Willen gestalten, und mögen sie einander Beistand in der Not, Trost im Leid und Gefährte in der Freude sein.« Die beiden Schwiegerelternpaare – alle schon einmal geschieden, alle neu liiert – schwammen in Stolz und liebevollen Tränen. Clare fand sie immer wieder erstaunlich, die Macht des Trauungsrituals – dass Leute, die das Eheleben von seiner schlimmsten Seiten kennen gelernt, die sein Scheitern und sein desaströses Ende hinter sich hatten, dennoch strahlten vor Glück, wenn ein Paar voller Hoffnung, Unerfahrenheit und Mut einander die Hand gab.
Bei dem anschließenden Fototermin standen die frisch gebackene Mrs. Veerhoos und ihr Ehemann anscheinend immer noch unter freudigem Schock. Clare musste ein paar der obligatorischen Aufnahmen über sich ergehen lassen und auch Teile der Zeremonie nachstellen, die der Fotograf verpasst oder verpatzt hatte, bevor sie aus der Schusslinie entkam. Der Fotograf trieb die Familie vor dem Altar zusammen und auseinander wie eine Schafherde, während sein Assistent hin und her sauste, um Lampen und Reflektorschirme zu justieren. Clare erhielt vom Brautführer drei feuchte, zerknitterte Briefumschläge, die mit »Priester«, »Organist« und »Kirchendiener« adressiert waren. Letzteres würde Mr. Hadyley nicht sehr gefallen. Er war stolz auf seinen altmodischen Titel »Küster zu St. Alban’s«. Gegen Ende der Aufnahmen hörte sie ihn in der Abstellkammer herumpoltern, und kaum war der letzte Gast hinauskomplimentiert, da startete Hadley das Bodenreinigungsgerät und ging auf die
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