Die Rote Spur Des Zorns
ausgetrockneter Bach durchschnitt den Weg, und vorsichtig stiegen sie über die glatten Steine. Russ’ Blick huschte blitzschnell zwischen den Bäumen hin und her.
»Glauben Sie wirklich, Peggys Kidnapper würde uns hier auflauern?« Clare flüsterte beinahe.
Russ schüttelte den Kopf. »Nein. Keine Ahnung. Es ist bloß …« Er deutete mit einer fahrigen Bewegung um sich herum. »Das Grün. Die Hitze. Die Luftfeuchtigkeit.«
»Ich dachte, Sie gingen gern in den Wald. Sie sind doch Jäger, oder?«
»Ja, im Herbst. Aber nicht, wenn alles grünt.« Er sah wieder nach rechts, links, oben, unten. »Im Herbst gefällt’s mir. Und im Frühling. Aber wenn alles grün war, ist mir noch nie etwas Gutes passiert.« Der Weg bog nach rechts ab, parallel zu einem dichten Hartholzbestand. Clare konnte fast hören, wie ihre Waden erleichtert aufseufzten, als sie über einen ebenen Untergrund lief.
»Manchmal habe ich Träume«, fuhr Russ fort. »Rot auf Grün.«
»Oh«, sagte Clare und fügte einen Moment später hinzu: »Erzählen Sie mir davon.«
Russ lächelte sie an, aber seine Augen wirkten unkonzentriert. Verirrt im Grün. »Würde ich ja gern, aber dazu bräuchte ich eine Flasche Whisky, und das würde man mir bei meinen AA-Treffen verdammt übelnehmen.«
Von weiter oben am Weg kam ein Geräusch, das sie beide abrupt innehalten ließ. Dann noch einmal: eine Art Klopfen oder Rascheln. Clare konnte es schwer definieren. Es war kein natürlicher Laut. Russ gab ihr ein Zeichen, an den Wegesrand zu gehen, und mit pochendem Herzen, sich der scharfen Zweige und kitzelnden Blätter kaum bewusst, drückte sie sich ins Unterholz. Ihr blieb eine Sekunde, um sich zu fragen, ob er dort mitten auf dem Weg Wurzeln schlagen wollte, und eine zweite, um neben Angst auch aufkommenden Ärger zu verspüren; dann verschmolz Russ mit den Schatten der großen Bäume auf der anderen Seite. Sie spähte zwischen winzigen Ästchen hindurch nach der Stelle, wo die Spurrinnen wieder bergauf führten und verschwanden.
Peggy Landry bog um die Ecke. Clare sah zu Russ, aber der hielt warnend einen Finger hoch, und sie wartete. Peggy war vollkommen zerzaust, einer ihrer Ärmel halb abgerissen, ihre Arme waren zerkratzt, ihre Schläfe von einem rot werdenden Striemen bedeckt, und das eine Auge machte den Eindruck, als würde es zu einem schlimmen Veilchen anschwellen. Sie ging schnell, achtete aber genau auf ihre Schritte. Clare schaute erneut zu Russ – er hatte seinen Finger immer noch erhoben und blickte ein gutes Stück an Peggy vorbei, zu der Wegbiegung. Offenbar wartete er darauf, ob jemand folgte. Clare hielt den Atem an und versuchte die Schweißspur zu ignorieren, die ihr juckend den Rücken hinablief. Peggy ging an dem Versteck der beiden vorbei. Erst, als sie fast an der nächsten Kurve war, trat Russ zwischen den Bäumen hervor. »Ms. Landry!«
Sie stieß einen gellenden Schrei aus. Clare stolperte wieder ins Freie, und Peggy schrie noch einmal.
»Peggy!«, rief Clare. »Ich bin’s! Clare Fergusson!«
Russ hob seine Hände. »Und ich, Chief Van Alstyne.«
Peggy taumelte rückwärts, presste sich eine Hand auf die Brust und brach zusammen.
»O mein Gott!« Sie liefen zu ihr. Clare war als Erste da und warf sich schlitternd neben ihr zu Boden. »Peggy! Alles in Ordnung?«
Russ kniete sich auf die andere Seite. »Lassen Sie mal sehen«, sagte er und schob Clares Hände beiseite. Peggy kauerte vornübergebeugt da und keuchte so hektisch, dass Clare fast sicher war, sie würde in Ohnmacht fallen. Russ nahm Peggys Kopf zwischen beide Hände und drehte ihr Gesicht zu sich her. Ihre Augen waren aufgerissen und weiß gerändert, wie bei einem verängstigten Pferd. »Ich glaube nicht, dass sie unter Schock steht«, sagte er. Er strich die Haare aus Peggys Gesicht. »Das hier sieht allerdings schlimm aus.« Er schaute zu Clare. »Tasten Sie ihren Oberkörper ab. Nur ganz behutsam. Vergewissern Sie sich, dass sie keine Stichverletzungen hat.«
Clare tat wie befohlen. »Nichts«, verkündete sie.
»Peggy« – Russ sprach langsam und deutlich – »Sie müssen sich beruhigen. Erzählen Sie uns, was passiert ist. Waren Sie mit jemandem zusammen? Hat man Sie bedroht? Hat man Sie irgendwie verletzt?«
»Wie … was …« Peggy schnappte nach Luft.
»Wir sind in Ihrem Haus gewesen«, berichtete Clare. »Mr. Wood sagte uns, Sie seien auf einen Anruf hin zur Baustelle gefahren.« Unsicher, wie viel sie der Frau erzählen durfte, blickte sie zu
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