Die Rote Spur Des Zorns
sie, Russ’ Mutter müsse entweder Eremitin oder ein Eichhörnchen sein. Aber plötzlich öffnete sich der Laubbaldachin, und sie kamen an eine unbewaldete Stelle mit einer Siedlung, die als winzige Ortschaft hätte durchgehen können. Entlang einer zweispurigen Straße stand eine Reihe von viktorianischen Landhäusern mit durchhängenden Dächern, die nur durch kreative Bemalung und zahlreiche Blumenkästen zusammengehalten wurden. Eine Nebenstraße, eingefasst von einer Tankstelle mit zwei Zapfsäulen, Gemischtwarenladen, Antiquitätengeschäft und Kunstgalerie, führte nach links.
Russ bog ab. Das ramponierte grüne Schild trug die Aufschrift OLD SACANDAGA ROAD, und Clare fragte sich, ob irgendwelche Landstraßen im Nordosten des Staates New York überhaupt neu waren. Nach kaum dreißig Metern bog Russ rechts in etwas ein, das entweder ein sehr kleiner, ungeteerter Parkplatz oder eine sehr große, grasbewachsene Zufahrt war. Clare fuhr neben den Streifenwagen und stieg aus.
»Großer Gott!«, sagte sie. »Das ist ja wie in einem Spielzeugland!« Sie standen neben einem Haus, das der detailgenauen Verkleinerung einer Renaissance-Villa im griechischen Stil glich und von hohen, schlanken Tannen überschattet war. Im ersten Stock lugten winzige Fenster unter einem von viereckigen Säulen getragenen Giebelfeld hervor, und weitere Fenster verliefen entlang der weißen, bretterverschalten Fassade, jedes umrahmt von grünen Fensterläden. »Das ist ja wie ein überdimensionales Puppenhaus! Und hier sind Sie aufgewachsen?«
»Nein. Mein richtiges Elternhaus ist heute ein Museum.« Sie verdrehte die Augen. »Doch, wirklich!« Er lachte. »Die ursprünglichen Käufer haben es an ein Ehepaar weiterveräußert, das darin ein Museum für Indianerkunst unterhält. Inklusive Souvenirladen. Im Grunde ist der sogar größer als das Museum.«
Ein ehemaliger, jetzt lila lackierter Schulbus mit mehreren großen Gummibooten auf dem Dach rumpelte vorbei. Dort, wo früher das Fahrtziel gestanden hatte, hing ein handgemaltes Schild mit der Aufschrift »Hudson-River-Schlauchbootfahrten«. Die Hunde kämpften sich zappend und schwanzwedelnd aus Clares Auto und rasten, sofort in höchster Alarmbereitschaft, bellend im Kreis herum.
»Bob! Gal! Aus! Böse Hunde!« Clare jagte ihnen nach, aber die Tiere blieben ganz von selbst am Gehsteigrand stehen. Auf der anderen Straßenseite lagen ein zweiter Antiquitätenladen und eine Presbyterianerkirche, die aus großen Flusssteinen gebaut schien; dahinter endete die Ortschaft abrupt. Die Old Sacandaga Road führte über eine Brücke und verschwand in dichtem Laubwald.
»Dort unten, das ist der Hudson«, erklärte Russ, neben Clare tretend. »Er ist an dieser Stelle sehr schnell und seicht. Viele Schlauchbootgruppen starten hier in der Gegend.«
»Ist das für die Hunde nicht gefährlich?«
»Ach was.« Er deutete auf den Rand der Einfahrt. »Dort hinter den Fliederbüschen ist ein schöner starker Maschendrahtzaun. Habe ihn selbst bauen geholfen. Und sollte sich herausstellen, dass die beiden gern Autos jagen, dann gibt’s hinten einen gut eingezäunten Hof. Mom ist es gewöhnt, Streuner aufzunehmen – Streuner aller Couleur. Kommen Sie, ich mach sie mit Ihnen bekannt.«
Russ marschierte auf eine weiß-grün gestrichene Remise zu, die ein gutes Stück abseits der Einfahrt lag, und verschwand zwischen zwei Tannen. »Mom?« Er tauchte wieder auf. »Da hinten ist sie nicht.« Er winkte Clare. »Los, kommen Sie mit rein.« Er stieg die Stufen zu einer grünen Küchentür, nahe der Rückseite des Hauses, hoch und hielt sie auf. Clare folgte ihm über die soliden grauen Steinblöcke, die die Treppe bildeten.
»Mom?«
Sie hörte eine gedämpfte Stimme aus dem Obergeschoss. »Bist du’s, Liebling? Ich komme gleich.« Überall waren Kochutensilien und Einkaufstüten verstreut, und auf einer in die Ecke gezwängten Maschine stand ein Korb voll Wäsche. Spruchtafeln mit der Forderung »Stoppt die Bagger!« drängten sich zwischen Leihbüchern und Zeitungsstößen auf einem wachstuch-bedeckten Tisch, und an einer Tür hing ein Amnesty-International-Kalender. Selbst der uralte Kühlschrank war mit Aufklebern bepflastert, die zum Einsatz für den Frieden, zum Kampf für eine gerechte Weltwirtschaft und zur Wahl von Hillary Clinton aufriefen.
»Mom ist so ’ne alte Friedensbewegte«, erklärte Russ. »Eine echte Linke, nach dem Motto: ›Steuern erheben und das Geld ausgeben‹, genau wie
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