Die Rote Spur Des Zorns
eine unerlaubte Demonstration. Jeder, der dem Aufruf zu einer friedlichen Auflösung nicht Folge leistet, wird verhaftet.« Der harte Kern der Widerständler setzte sich sofort auf den Boden und begann »We shall overcome« zu singen.
Clare konnte sehen, wie Russ die Lippen bewegte, aber er schien etwas zu sagen, das nicht allgemeinheitstauglich war.
Sie hörte die Sirene eines zweiten Streifenwagens. Zeit zum Verschwinden. Sie musste den Kopf einziehen und aggressiv ihre Ellenbogen gebrauchen, um sich zwischen den Leuten hindurchzuzwängen. Nur sehr wenige schienen gewillt, sich den Rest der Show entgehen zu lassen.
»Der interessanteste vierte Juli, seit dieser Flitzer damals ’79 …«
»… nicht nachgewiesen, dass das Zeug überhaupt von der Baustelle kommt.«
»Gott sei Dank, hat jemand mal die Courage, sich gegen diese Herren –«
»Das Gleiche hast du schon beim Eine-Million-Mütter-Marsch gesagt, und da warst du auch auf dem Holzweg.«
»Nach heute Abend ist der kein Problem mehr, was?«
Dieser Satz, begleitet von einem kleinen Lachen, ließ Clare die Nackenhaare zu Berge stehen. Sie blieb wie angewurzelt stehen und drehte sich nach dem Sprecher um. Ein Elternpaar mit den Armen voll zappliger, quengelnder Kleinkinder stieß sie beiseite, und Clare konnte beim besten Willen nicht mehr sagen, wessen raue, hämische Stimme einen ganz einfachen Satz wie eine Drohung hatte klingen lassen. War es dieses Grüppchen Teenagerjungs? Die schienen nicht alt genug. Dieser Mann dort mit seiner Frau? Der schien zu alt. Clare rieb sich mit ihrem Handballen die Stirn. Sie schnappte allmählich über. Diese beiden Gewaltverbrechen und jetzt dieser Hexenkessel im Park hatten bei ihr eine Sicherung durchbrennen lassen. Während sie sich weiter durch das Gewühl kämpfte, klammerte sie sich an die Vorfreude auf ihr Auto, auf ihren warmen Pulli und eine friedliche Heimfahrt zum Pfarrhaus. Ihrem gemütlichen Kleinstadtpfarrhaus, genau gesagt. Sie hätte vom Bischof eine Gefahrenzulage verlangen sollen, bevor sie nach Millers Kill kam.
Gleich nach ihrer Rückkehr ging Clare unter die Dusche und blieb darunter, bis das heiße Wasser aufgebraucht war. Noch nie im Leben hatte sie an einem vierten Juli so gefroren. Dann hüllte sie sich fest in einen knöchellangen Frotteebademantel mit Kapuze, der einer Mönchskutte glich. Der Bademantel war ein Geschenk von ihrem Bruder Brian, genau wie die Uhr in Form eines Apache-Helikopters, das Paar Militärstiefel mit metallbeschlagenen Absätzen und ein Rekrutierungsposter, das Michelangelos Gott unter dem Slogan I WANT YOU zeigte. Clare war gerade dabei, sich eine kleine Stärkung zu machen, indem sie ein halbes Pfund Linguine in einen Kessel voll kochendem Wasser schüttete, da klingelte das Telefon.
»Clare? Ich bin’s – Russ. Ich muss Sie um einen Gefallen bitten.«
Seine Stimme klang merkwürdig gedämpft, fast geheimnistuerisch. »Russ? Wo sind Sie?«
»Im Bezirksgefängnis.«
»Im Gefängnis? Was machen Sie denn da?« Die Worte waren kaum aus ihrem Mund, da wurde ihr klar, wie idiotisch die Frage klang. »Ich meine, sind Sie denn nicht mehr auf Streife?«
»Es ist wegen meiner Mutter«, sagte er mit so bitterem Ton, wie sie es noch nie von ihm gehört hatte. »Ich versuche sie hier rauszuhauen.«
Clare beschloss, ihn nicht darauf hinzuweisen, dass seine Mutter ja erst durch ihn dort gelandet war. »Klappt irgendwas nicht mit der Kaution? Muss sie auf eine Anhörung warten oder was?«
»Diese verdammte Kaution hätte ich ja selbst gestellt, aber sie will nicht! Sie sagt, sie sei eine politische Gefangene und würde erst gehen, wenn sie öffentlich vor so einem Scheiß-Richter auftreten darf!« An dieser Stelle zischte er regelrecht. »’tschuldigen Sie den Kraftausdruck.«
»Weshalb dieses Flüstern?«, fragte Clare, unwillkürlich selbst mit Flüsterstimme.
»Ich rufe Sie vom Gefängnis aus an. Es sind rund ein Dutzend Bullen und Wachleute hier, und alle Welt weiß, dass ich meine eigene Mutter wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaftet habe. Stellen Sie sich vor, wie sie mich vor dem Kautionsrichter genannt hat!« Er senkte seine Stimme noch mehr. »›Süßer‹! Diese Schande überleb ich nicht.«
Clare biss sich auf die Lippe. Als sie sicher war, dass sie wieder sprechen konnte, ohne lachen zu müssen, fragte sie: »Also, was soll ich tun?«
»Holen Sie die Hunde ab.«
»Die Hunde?«
»Die zwei, die Sie bei Mom untergebracht haben. Sie hat sie
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