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Die Rote Spur Des Zorns

Die Rote Spur Des Zorns

Titel: Die Rote Spur Des Zorns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Spencer-Fleming
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Margys Küchentür aufgesperrt hatte, begrüßten die Hunde sie ebenso begeistert wie beim letzten Mal. »Gewöhnt euch da nur nicht dran«, warnte sie. »Ich bin nicht immer bereit, um euch vor der Vereinsamung zu retten. Aus, Bob! Platz!« Sie ließ die beiden im Hinterhof herumtoben, während sie selbst den bedenklich zur Neige gehenden Sack Trockenfutter in ihren winzigen Kofferraum warf. Sie musste beim IGA anhalten und fünfzig Pfund neues Futter kaufen, bevor sie Margy die Hunde zurückbringen würde. Kein Mensch konnte wissen, wann Paul Foubert aus Albany kam.
    Als sie die Fressnäpfe aus der Küche holen wollte, gab sie der Versuchung nach, in das Wohnzimmer zu schauen. Auf den ersten Blick sah es typisch für eine allein stehende Siebzigjährige aus: ein geknüpfter Läufer auf dem Boden, gemütliche, abgenutzte Fünfziger-Jahre-Möbel, ein an einem Extraplatz postierter Fernseher, auf dem Programmzeitschrift und Brille lagen. Der Bücherstapel auf dem Sofatisch aber trug Titel wie »Umwelteinflüsse der modernen Industrieherstellung« oder »Verbraucherführer gegen die Mülllawine«. Eine Wand war fast vollständig mit eingerahmten Fotos bedeckt: altertümliche Schwarzweiß-Aufnahmen von zwei kleinen Kindern – vermutlich Russ und seine Schwester –, neuere Farbporträts von Janice’ drei Mädchen; Margy bei einem Sitzstreik, Margy unter einem Spruchband mit der Aufschrift »Kinder des Friedens« und ein Foto aus einer Ausgabe des Time Magazine von 1979, worauf Margy und Gouverneur Nelson Rockefeller einander ins Gesicht schrien, während sie ihm ein gerahmtes Bild unter die Nase hielt.
    Das besagte Bild hing gleich unter der Zeitschriftenseite. Clare nahm es von seinem Nagel und sah es sich genauer an. Es zeigte einen großen, außergewöhnlich schlanken jungen Mann, der mit freiem Oberkörper, braungebrannt und mit sonnengebleichten Haaren vor exotischen Palmen stand. Er hätte ein Surfer Ende der sechziger Jahre sein können, wären nicht die Militärmarke um seinen Hals, die Armyhosen und das M16 gewesen, das er auf dem Rücken trug. Clare strich mit einem Finger über das Glas. So jung hatte sie ihn sich noch nie vorgestellt. Zur Entstehungszeit dieser Aufnahme musste sie sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein und gerade ihre ersten Kinderbücher gelesen haben, während er jeden Tag im Schützengraben schlief, gegen Darmparasiten ankämpfte und versuchte, nicht umgebracht zu werden. Mit einem Mal klaffte der Altersunterschied, der ihr nie etwas bedeutet hatte, wie ein Abgrund zwischen ihnen – eine Unmenge an Erlebnissen und Erfahrungen, die er als erwachsener Mann durchgemacht hatte, die für sie aber nur vage Kindheitserinnerungen oder Legende waren.
    Wahrscheinlich hätte Margy Van Alstyne ihr liebend gern Geschichten über den jungen Russ erzählt. Clare konnte ja einmal zu Besuch hierher kommen und sich anhören, wie er in der High School gewesen und wohin er während seiner Militärzeit gegangen war. Vielleicht konnte sie auch mehr über seine Frau erfahren. Wenn du nicht nach Atlanta willst, kleines Fräulein, dann steig auch nicht in den Zug, fuhr die Stimme ihrer Großmutter dazwischen. Clare holte tief Luft. Sie hängte das Foto behutsam wieder an seinen Platz und richtete es exakt aus. Dann zog sie sich in die Küche zurück, um nicht erneut der Versuchung zu erliegen.
    Die Rückfahrt nach Millers Kill dauerte noch länger als der Hinweg, was teils an dem dichten Sonntagabendverkehr, teils an dem langsamen Tempo lag, zu dem sie gezwungen war, weil sie das Auto randvoll mit Hunden hatte. Erschwerend kam hinzu, dass Clare sich über sich selbst ärgerte. Da bat man sie um einen Gefallen für jemanden, der ihr sowieso eine unschätzbare Hilfe gewesen war, weil er ihr die Hunde abnahm, und sie nutzte das Ganze als Vorwand, ihre Nase in Mrs. Van Alstynes Wohnzimmer zu stecken und alberne Fantasien um den verheirateten Sohn zu spinnen. Das war schlicht und einfach widerlich.
    Jeder auf dem Seminar hatte von dem einen oder anderen Priester gehört, der die Grenze zwischen Mitgefühl und Leidenschaft überschritt und infolgedessen ein, zwei Ehen zerstörte. Und in neun von zehn Fällen ging es dabei um irgendein Gemeindemitglied, das er seelsorgerisch betreute, oder um die Pfarrsekretärin. Na ja, Clare betreute zurzeit überwiegend junge Brautpaare, und Lois stellte für ihre Tugend bestimmt keine Bedrohung dar. Wenn sie nur ein bisschen mehr Selbstbeherrschung zeigte, dann gäbe es auch

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