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Die Rote Spur Des Zorns

Die Rote Spur Des Zorns

Titel: Die Rote Spur Des Zorns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Spencer-Fleming
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Wagen war, dass er sich zurücklehnen konnte, ohne festzukleben, legte er den Gang ein und fuhr die dunkle Straße zwischen den Bäumen hinab. Bewundernswert – außer natürlich, es hatte mit Kühnheit gar nichts zu tun und sie erinnerte sich bloß nicht mehr. Nein, sie erinnerte sich sehr wohl. Wahrscheinlich hatte sie den ganzen Tag über ihren Worten gebrütet und brannte darauf, sich zu entschuldigen. Die kiesbestreute Straße ging knirschend in eine asphaltierte über. Demnächst würde er sich mit Clare in Verbindung setzen, ihre Entschuldigung annehmen, ihr großmütig verzeihen. Aber jetzt eine Ablenkung, das fehlte ihm gerade noch. Er ermittelte in einem Mordfall, von den beiden Überfällen ganz zu schweigen. Von dem Waldweg schwenkte er auf die River Road, Richtung Stadt. Außerdem wollte er Clare nicht den Eindruck vermitteln, er würde ihre Worte überbewerten. Hätte ihm jemand anders in diesem Park vorgeworfen, dass er die Hände in den Schoß lege, dann wäre ihm das sonstwo vorbeigegangen. Die einzige Meinung, auf die er Wert legte, war die seiner Männer. Und natürlich die von seiner Frau, denn Linda gab unverhohlen zu, dass sie so gut wie nichts von der Polizeiarbeit verstand, und hielt sich deshalb heraus.
    Auf der Main Street herrschte zwar nur schwacher Verkehr, aber trotzdem ging es nur im Schritttempo vorwärts, denn die Fußgänger kreuzten schlafwandlerisch die Fahrbahn zwischen Kunstgalerie und Antiquitätenladen oder Eissalon – beziehungsweise »Ice-cream Shoppe«, wie das altmodisch verschnörkelte Schild verkündete. In Russ’ Kindheit hat es am oberen Ende der Main Street noch richtige Geschäfte gegeben – Woolworth, Bilt-Rite-Schuhe und Biretti, den seine Mom immer den »italienischen Bäcker« nannte. Aber während er von Stützpunkt zu Stützpunkt zog und Karriere bei der Militärpolizei machte, hatten die alten Läden nacheinander geschlossen – Opfer der Einkaufszentren, die an der Route 9 aus dem Boden schossen. Ende der Achtziger, als Russ die Welt durch den Boden einer Flasche betrachtete, war mit einer kräftigen Finanzspritze vom Staat die Innenstadt wiederbelebt worden, und heute herrschte auf den Straßen reger Betrieb, zumindest im Sommer. Es gab leckeres Gebäck, Stiche von Fort Ticonderoga und Nobelklamotten zu kaufen, die für eine Gartenparty während der Rennsaison in Saratoga genau richtig waren. Nicht kaufen konnte man einen Rasierapparat, ein Paar Schuhe oder ein preiswertes Sandwich.
    Er bog auf die Church Street, wo die Läden älter, deutlich weniger glanzvoll und weniger Fußgänger unterwegs waren. Beim Gedanken an den Eissalon fiel ihm seine Mutter wieder ein. Er hatte nicht mal bei ihr angerufen, um zu sehen, ob sie wohlbehalten nach Hause gekommen war. Seine Schwester Janet hatte heute früh auf der Wache mit ihm telefoniert und ihm erst einmal die Leviten gelesen, bevor sie sagte, sie werde Mom vom Gericht abholen. Er verstärkte seinen Griff um den Lenker und zog ein finsteres Gesicht. Ein Mann auf dem Zebrastreifen vor ihm sprintete über die Fahrbahn. Da strengte er sich an, seinen Job zu tun, und alle Frauen machten ihn deshalb fertig.
    Er umrundete die kleine Grünanlage am Ende der Church Street und bog in die Elm ein. Das Pfarrhaus war dunkel, aber hinter ein paar der Buntglasfenster von St. Alban’s – denen, die am weitesten vom Kirchentor weg waren – schimmerte Licht. Er runzelte die Stirn. Montag war doch kein Gottesdienst, oder?
    Er parkte den Streifenwagen in Clares Einfahrt und ging auf den Bürgersteig zurück, der zum Hauptportal in der Church Street führte. Er beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken, dass er die Gottesdienstordnung der Episkopalkirche kannte, obwohl er zum letzten Mal als Schuljunge irgendwelche religiösen Veranstaltungen besucht hatte. Und auch das nur, weil er in ein Mädchen aus der Methodistischen Jugendgruppe verknallt war.
    Er drückte gegen das mächtige Portal, und einer der Türflügel schwang lautlos nach innen. Russ trat durch die Eingangshalle in das Kirchenschiff. Er wartete einen Moment, damit sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnen konnten. Der Himmel draußen war immer noch hell, aber das Abendrot drang nicht durch die Buntglasfenster, die in regelmäßigen Abständen die Mauern säumten. Elektrische Beleuchtung gab es nirgendwo. Er machte nur ein paar Schritte, um nicht unversehens in einen Gottesdienst zu platzen. Aber niemand saß in den Bänken. Seine Augen suchten die Reihen

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