Die roten Blüten der Sehnsucht
Jungen. Der Chief schickte mich weg, und ich ging nach London.«
» Einfach so?«
» Einfach so.« Ian gähnte herzhaft und streckte sich. » Er gab mir das Messer und sagte, ich müsse jetzt allein zurechtkommen.«
» Was hast du da gemacht, so ganz allein? Wovon hast du gelebt?«
» Anfangs habe ich es mit meinen Messerkunststücken probiert. Mit Botengängen und als Stalljunge. Dann versuchte ich mich als Taschendieb.« Er stockte, bis er mit spürbarer Überwindung fortfuhr: » Nicht sehr erfolgreich. Dabei geriet ich an den Reverend, der mir nur die Wahl ließ zwischen den Constablern und seiner Besserungsanstalt. Den Rest kennst du.«
Dorothea war überzeugt, dass er ihr einige der hässlicheren Details vorenthalten hatte, aber sie drang nicht weiter in ihn. Dass er ihr überhaupt so viel erzählt hatte, war erstaunlich genug. Der Brief des Lords musste einiges in seinem Inneren aufgewühlt haben. Sie umschlang ihn fester. Sein Weg vom Findelkind zum Viehhändler zeugte von bewundernswerter Willenskraft und Zielstrebigkeit. » Was wirst du Lord Embersleigh antworten?«
» Die Wahrheit. Der Mann tut mir leid, aber wenn sein Sohn tatsächlich noch leben sollte– ich bin es jedenfalls nicht. Dem Chief wäre es auf jeden Fall aufgefallen, wenn ich feine Kleidung getragen hätte.«
» Stand in dem Brief eigentlich etwas über die Umstände, unter denen das Kind verschwand?«, fragte Dorothea nachdenklich.
Ian wandte den Kopf und sah ihr ins Gesicht: » Nein. So etwas würde man einem Wildfremden auch nicht berichten. Du nimmst doch nicht im Ernst an, dass an der Räuberpistole etwas dran ist?«
» Nein, nein, es hat mich nur ganz allgemein interessiert«, sagte sie rasch. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Was wäre, wenn nun doch…?
» Vergiss es!« Seine Stimme klang gepresst. » Der Chief fand uns, weil meine Mutter dermaßen nach irgendeinem billigen Fusel stank, dass er dem Geruch folgte.«
Es war ihm anzuhören, dass er diese Information nur äußerst widerwillig preisgab. War das der Schlüssel zu seinem oft übermäßigen, ja geradezu pedantischen Beharren auf Umgangsformen? In einer plötzlichen Aufwallung von Zärtlichkeit strich Dorothea ihm sanft die dunklen Haare aus der Stirn. » Ich liebe dich, Ian«, versicherte sie ihm. » Ich liebe dich, egal, wer deine Eltern waren oder wo du aufgewachsen bist. Der Mensch, der du jetzt bist, ist mein Mann, Ian Rathbone.« Sie zog die Stirn kraus. » Woher hast du diesen Namen eigentlich?« Ihr war eingefallen, dass ein Kleinkind sicher nicht wusste, wie es mit Familiennamen hieß.
» So hat mich der Chief genannt.« Ian grinste, ein übermütiges Grinsen voller Zuneigung. » Er meinte, ein Zigeunername wäre für mich nicht passend. Also hat er mir den ersten Namen gegeben, den er gehört hat, nachdem er mich aufgesammelt hat. Angeblich hat eine Wirtsfrau ihren Mann Ian Rathbone wüst beschimpft. Der Chief pflegte zu sagen, dass ich aufpassen sollte, dass mir nicht das gleiche Schicksal drohte.« Er zog Dorothea eng an sich und drückte ihr einen Kuss auf die Schläfe. » Aber jetzt sollten wir schlafen. Morgen muss ich früh raus. John sagte etwas von Problemen am nördlichen Gatter.«
Wie schaffte Ian es nur, nach einer so aufwühlenden Unterhaltung nahezu übergangslos in tiefen Schlaf zu sinken? Dorothea lag neben ihm, lauschte seinen regelmäßigen Atemzügen und ging die Geschichte in Gedanken noch einmal durch. Ian mochte überzeugt davon sein, dass er nichts mit dem verschwundenen Grafensohn gemein hatte. Sie hingegen hatte das Gefühl, dass etwas mehr hinter dieser ganzen Geschichte steckte. Eine vage Beunruhigung, die sie nicht konkret hätte begründen können. Aber vermutlich ging da nur wieder ihre Fantasie mit ihr durch. Sie hätte diesen letzten Roman nicht lesen sollen, den Lady Arabella ihr so glühend empfohlen hatte, dass sie es einfach nicht übers Herz gebracht hatte, abzulehnen. Darin wimmelte es dermaßen von Entführungen und Verwechslungen, dass man völlig den Überblick über die Personen verlor. Ian hatte sicher recht: Bei dieser Suche nach dem verschollenen Kind handelte es sich um nichts als den letzten, verzweifelten Versuch eines alten Mannes, dem Schicksal eine andere Wendung abzutrotzen.
Der Morgen verhieß einen strahlenden Frühlingstag. Dorothea öffnete die Fensterflügel weit und blickte auf die liebliche Landschaft, die sich bis zur Horizontlinie hin erstreckte. Um diese Jahreszeit führte
Weitere Kostenlose Bücher