Die roten Blueten von Whakatu - Ein Neuseeland-Roman
Mund. Es war später Abend, die Sonne vor Kurzem untergegangen und jetzt brannte nur die einzelne Kerze in ihrem Flaschenständer.
Lina trat langsam näher, ihre Hände krallten sich in ihre Schürze. Sie wünschte, Alexander wäre hier, aber er brachte den Arzt zurück, da es bereits dunkel war. Dr. Braun hatte Rieke mit verschiedenen Arzneien und sogar einem Aufguss aus Kaffee behandelt, doch erst eine kleine Dosis Arsen hatte endlich die ersehnte Wirkung gehabt: Ihr pfeifender, krampfhafter Atem war ruhiger geworden und auch ihre Lippen hatten wieder ein wenig Farbe angenommen. Lina hatte ihr noch etwas warmen Apfelwein gegeben. Jetzt schlief Rieke in der Kammer. Julius hatte es sich nicht nehmen lassen, für eine Weile bei seiner kleinen Freundin zu bleiben.
Trebans Pfeife war gestopft, aber nicht angezündet. Etwa aus Rücksicht auf Rieke? Jetzt nahm er die Pfeife aus dem Mund. Wieder einmal fiel Lina auf, wie ungesund er aussah. Müde und abgearbeitet. Aber wahrscheinlich sah sie heute Abend selbst auch nicht anders aus.
»Dr. Braun hat mich viel Geld gekostet«, begann er. »Geld, das ich nicht habe.«
Lina nickte beklommen. »Ich … ich arbeite es ab, Mr Treban. Ich werde noch fleißiger sein. Ich … ich kann auch weniger essen.«
Treban ging nicht darauf ein. »Du wusstest also, dass sie krank ist.« Es war eine Feststellung, keine Frage. Lina nickte erneut, mit zusammengepressten Lippen. Ihr Herz schlug einen langsamen, harten Takt. Was würde er gleich zu ihr sagen?
»Außerdem«, fuhr Treban fort, »hat Dr. Braun Zweifel über das Alter deiner Schwester geäußert. Er sagt, sie könne unmöglich schon dreizehn Jahre alt sein.«
Rieke hatte vor wenigen Wochen Geburtstag gehabt und die Mädchen hatten notgedrungen an der Geschichte mit dem falschen Alter festhalten müssen.
Lina sah ihn eine lange Weile stumm an, während sich die Gedanken in ihrem Kopf drehten.
»Sie ist elf«, gab sie schließlich tonlos zu. »Bitte, Mr Treban, Sie müssen mir glauben, wir … ich wollte Sie nicht anlügen. Es war nur … Anders hätte man uns nicht ausreisen lassen.«
In wenigen hastigen Sätzen versuchte sie zu erklären, wie es dazu gekommen war. Erzählte ihm vom Tod des Vaters, von ihrer bitteren Armut und dem Entschluss, nach Neuseeland auszuwandern. Von ihrer Anmeldung im Amtshaus in Grevesmühlen, der Reise nach Hamburg und der Untersuchung am Hamburger Hafen.
Treban hörte sich ihre Schilderung unbewegt an. Nur seine Kiefer mahlten dabei beständig, wie eine wiederkäuende Kuh.
»Ich weiß nicht, Lina, was ich glauben soll«, sagte er schließlich. »Du hast mich angelogen, was das Alter deiner Schwester betrifft. Außerdem hast du mich über ihre Krankheit im Unklaren gelassen. Ja, ich verstehe, warum du das getan hast, und über all diese Sachen könnte ich eventuell hinwegsehen, wenn dieser verdammte Seip nicht wäre. Du hast ja mitbekommen, womit er mir droht. Und jetzt stecke ich in ernsten Schwierigkeiten. So viel Geld, wie ich ihm schulde, habe ich nicht. Vor allem nicht, wenn noch zwei weitere Personen zu ernähren sind.«
Lina schluckte. Sie spürte, wie Panik in ihr aufstieg. »Was meinen Sie damit? Was … was soll das heißen?«
Treban strich sich mit der Linken über die hageren Wangen. »Lina, ich will es kurz machen. Ich kann mir zwei Dienstmädchen, von denen das eine auch noch krank ist, einfach nicht mehr leisten. Es tut mir leid, aber sobald deine Schwester wieder gesund ist, muss sie uns verlassen.«
Lina kam sich vor, als hätte man ihr mit einem schweren Holzknüppel auf den Kopf geschlagen. Genauso wattig und dumpf musste es sich anfühlen. Und genauso wehtun.
»Verlassen?«, wiederholte sie wie betäubt. »Aber … wohin soll sie denn gehen?«
»Ich weiß es nicht, Lina. Aber sie wird schon irgendwo unterkommen.« Er steckte die Pfeife in den Mund und sog daran. Dann erst merkte er offenbar, dass sie nicht angezündet war, und nahm sie wieder heraus. »Glaub nicht, dass ich das gerne tue. Aber ich habe keine andere Wahl. Zwei Dienstmädchen kann ich einfach nicht mehr bezahlen.«
In dieser Nacht fand Lina keinen Schlaf. Immer wieder wälzte sie sich von einer Seite auf die andere. Sie drängte die Tränen zurück, die in ihr aufsteigen wollten, und zwang sich nachzudenken. Neben sich hörte sie Rieke verschleimt husten, sich umdrehen und wieder in einen unruhigen Schlaf fallen.
Sie konnte ihre Schwester nicht alleine gehen lassen. Niemals. Aber dann gab es nur einen
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