Die roten Blueten von Whakatu - Ein Neuseeland-Roman
darin, nach Rieke und Julius Ausschau zu halten und das Boot voranzubringen. Das ständige Paddeln gegen den Strom war anstrengend. Immer wieder machten sie am Ufer eine kurze Rast, aber in diesen Pausen wusste Lina plötzlich nicht mehr, worüber sie mit Alexander reden sollte. Mittlerweile taten ihr Arme und Rücken weh und sie hatte Blasen an den Händen, aber sie biss die Zähne zusammen und paddelte weiter. Sie wollte vor Alexander schließlich nicht als weinerlich dastehen.
Die Landschaft änderte sich allmählich, wurde wilder, ursprünglicher. Sumpf und schwammige Wiesen säumten den Fluss, an dessen Rändern Binsen und Flachs wuchsen. Lina war froh, dass sie nicht zu Fuß dort hindurchmarschieren musste. Wind kam auf, der landeinwärts wehte und ihre Fahrt ein wenig beschleunigte.
»Müssten wir sie nicht bald eingeholt haben?«, stellte sie am Nachmittag schließlich die Frage, die ihr schon länger durch den Kopf ging.
Zunächst kam keine Antwort. Erst nach einer Weile meinte Alexander: »Sie haben einen ganzen Tag Vorsprung.« Lina glaubte, einen gewissen Zweifel in seiner Stimme zu hören, aber vielleicht hatte sie sich auch getäuscht.
Sie waren nicht allein auf dem Fluss: Hinter einer Biegung kamen ihnen plötzlich zwei größere waka entgegen. Linas erste Reaktion war, sich zu ducken. Dann richtete sie sich wieder auf. Es war sinnlos: Natürlich hatten die Maori sie längst gesehen. Ihr Herz schlug rascher. Waren sie ihnen wirklich friedlich gesinnt? Es fiel ihr noch immer schwer, nicht in jedem Maori einen möglichen Feind zu sehen.
Die beiden waka glitten beängstigend schnell auf sie zu. In jedem saßen vier Maori-Männer mit nacktem Oberkörper und jeder von ihnen war tätowiert.
»Keine Angst«, sagte Alexander, der Linas plötzliche Anspannung bemerkt hatte. »Ich kenne sie.«
Sie waren freundlich. Sogar sehr freundlich. Zumindest behauptete das Alexander, der nach einem kurzen, über das Wasser gerufenen Wortwechsel das waka ebenfalls ans Ufer steuerte. Erneut konnte Lina sehen, wie Alexander mit den Maori das eigenartige Begrüßungsritual austauschte, indem sie Stirn und Nase aneinanderpressten. Nach einigem kurzen Geplänkel überreichten die Maori ihnen schließlich zwei Fische und ein paar seltsam aussehende Kartoffeln. Jetzt redeten sie mit Alexander und beäugten dabei Lina so ungeniert, als hätten sie noch nie eine weiße Frau gesehen. Lina hielt sich nah an Alexander und folgte angestrengt dem schnellen Wortwechsel auf Maori, in das sich hier und da ein paar englische Brocken mischten. Hatte sie das richtig verstanden?
»Haben sie Rieke und Julius gesehen?«
Alexander nickte kurz zu ihr hinüber, auch er wirkte plötzlich aufgeregt. »Gestern, sagen sie. Zwei pakeha -Kinder.« Pakeha war der Name, den die Maori für die Weißen verwendeten. »Ein Junge und ein Mädchen. Sie haben ihnen sogar geholfen, ein ganzes Stück flussaufwärts zu kommen.«
Lina fiel ein Stein vom Herzen. Auch wenn das bedeutete, dass Rieke und Julius einen größeren Vorsprung hatten – zumindest waren Alexander und sie auf dem richtigen Weg. Lina war so erleichtert, dass sie es wagte, sich zum ersten Mal direkt an einen der Maori zu wenden – denjenigen, der ihr am wenigsten Furcht einflößend erschien.
»Wie ging es ihnen? Waren sie gesund?«, formulierte sie in holprigem Englisch.
Als der Maori lächelte, verzog sich das Muster aus dunklen Spiralen und Ornamenten, mit dem sein breites Gesicht überzogen war. »Ja, kleine Lady, es ging ihnen gut. Sie haben gelacht und waren fröhlich.«
Dann deutete er auf Lina und sagte etwas zu Alexander, das sich anhörte wie »whaia-ipo?«.
Die anderen Maori lachten. Alexander schüttelte den Kopf und Lina wusste nicht, worüber sie sich mehr wundern sollte: dass Alexander diese Maori kannte und sogar ihre Sprache verstand oder dass er plötzlich rot geworden war.
»Was hat er gesagt?«, flüsterte sie neugierig.
»Nichts«, gab er zurück. »Wir müssen weiter.«
Kapitel 17
Die Umzäunung auf der Anhöhe bestand nur noch aus verrotteten Holzstämmen; dahinter konnte Lina eingefallene Hütten erkennen. Das hier waren die Überreste eines pa, einer Siedlung der Maori.
Ein kräftiger Wind wehte und es dämmerte bereits, als sie das waka am Ufer festmachten und ihre Sachen an Land brachten. Am mattgrauen Himmel ballten sich Wolken mit regenschweren Bäuchen. Der Wind trieb sie vor sich her wie ein Schäfer die Herde. Und jetzt fing es auch noch zu
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