Die Rückkehr der Königin - Roman
jungfräulichen Schnee sah man nur die Spuren von Rehen, die im Sonnenschein glitzerten. Die Luft war immer noch eisig, aber der Tag hatte sich etwas erwärmt, sodass al’Tamar seinen Schleier abgenommen hatte. Sie ritten hintereinander, Anghara voraus. Gelegentlich lächelte sie, wenn sie sich umdrehte, um den faszinierten Ausdruck auf al’Tamars Gesicht zu sehen. Er erinnerte sie lebhaft daran, wie sie wohl geschaut hatte, als al’Jezraals kleine Karawane zu dem Ort aufgebrochen war, aus dem später Gul Khaima wurde. Für Anghara war die Wüste unvorstellbar gewesen; für al’Tamar waren es diese endlosen weißen Schneefelder, die am Berge schimmerten, nur unterbrochen von den tiefgrünen Fichten unter schweren Schneeladungen. Einmal überraschten sie einen Schneehasen, der auf ihrem Weg sich fein säuberlich die langen Löffel putzte. Mit einem Angstquieken verschwand er blitzschnell hinter einem Baum.
»Ein Schnee- shevah «, sagte al’Tamar. »So unterschiedlich sind unsere Welten gar nicht.«
Trotz der Jahreszeit kamen sie flott vorwärts und erreichten ihr Ziel am Vormittag. Der Großteil des Sees war zugefroren, abgesehen von einer kleinen Fläche, wo warmes Wasser den Himmel spiegelte.
»Dort«, sagte Anghara und deutete auf das Wasser, als sie sich auf wenige Schritte genähert hatten. »Das ist der warme Teich. Hier haben wir ...«
»Warte!«, unterbrach sie al’Tamar und hob die Hand. »Hört mal. Sie kommt.«
Anghara und Kieran schauten sich an, dann hinauf zum bewaldeten Hang über dem See. Der Wald schien stumm und leer. »Ich höre nichts ...«, flüsterte Anghara, doch Kieran nahm schnell ihr Handgelenk und deutete auf die Bäume.
»Es ist eine weiße Hirschkuh«, sagte er leise.
Es war kaum zu glauben, dass al’Tamar dieses Tier gehört haben konnte. Es bewegte sich anmutig und stellte die Hufe vorsichtig in den fesseltiefen Schnee. Die Hindin schenkte den drei Reitern, die nur wenige Fuß entfernt waren, keinerlei Beachtung, sondern ging zum Wasser und senkte den Kopf, um zu trinken. Dann schaute die Hirschkuh auf, musterte sie langsam und königlich und wandte sich ab.
Plötzlich zuckte Kieran zusammen, als das weiße Schweigen von einem dumpfen Grollen aus dem Wald unterbrochen wurde. Er sah, wie das Tier innehielt, unsicher wurde. Die schlanken Ohren flatterten. Sie versuchte herauszufinden, woher die Gefahr drohte ... als sie sich umdrehte, war es bereits zu spät. Ein riesiger Wolf mit großen goldenen Augen und einem dichten weißen Fell machte sich gerade zum Sprung auf die weiße Hindin bereit, um ihr mit aufgerissenem Schlund den Hals zu zerfetzen ... » Nein! «
Anghara sah, wie die weiße Hirschkuh davonging, den Kopf senkte, als hätte sie Schmerzen, und dann langsam verblasste. Sie konnte die Bäume hinter dem Körper der Hindin durchschimmern sehen. Das Tier verblasste zu einem Geist ... » Nein! «
Der Schrei kam aus zwei Kehlen gleichzeitig. Kieran griff bereits nach seinem Schwert, als sein Pferd unter dem Schenkeldruck vorwärtssprang. Die Waffe blieb im Wolf stecken. Kieran wusste, dass jede Sekunde zählte, ließ sie dort und zückte seinen Dolch. Unbesonnen sprang er aus dem Sattel, um den Wolf aufzuhalten. Er sah den roten Rachen mit den spitzen Fängen näherkommen und hob instinktiv die Hand, um ihn abzuwehren.
Auch Anghara war von ihrem Pferd abgestiegen und rannte mit ausgestreckten Händen zu Fuß zu der Geisterhirschkuh.
Sie erwartete, weiches weißes Fell zu spüren; Kieran wappnete sich für den Angriff der scharfen Zähne. Stattdessen berührten sich ihre Hände, Handfläche gegen Handfläche, instinktiv die Finger verschlingend – und die Geistergestalten, die sie berühren wollten, flatterten und lösten sich auf. Der große Wolf war weg, aber unter der Brücke der beiden Hände hob die weiße Hindin den Kopf, der nicht länger zart war, sondern groß und stolz, und von einem mächtigen Geweih geziert wurde, dessen Gehörn golden glänzte und einer Krone glich. So blickte das Tier zuerst Anghara dann Kieran an, ehe es ganz langsam zurück in den Wald schritt. Kieran glaubte, einen grauen Schatten unter den Bäumen verschwinden zu sehen, vielleicht alles, was von dem gefährlichen Wolf noch übrig war.
Wie betäubt schauten sie der Hirschkuh mit dem goldenen Geweih nach, dann einander in die Augen. Ihre Finger waren immer noch fest ineinander verschlungen.
»Du möchtest Miranei verlassen?«, ertönte plötzlich eine Stimme aus weiter Ferne.
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