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Die Rückkehr der Zehnten

Titel: Die Rückkehr der Zehnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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sich auch Levin in den Gang und hob den Priesterstab auf, den er vorausgeworfen hatte. Sein grauer Priestermantel passte sehr viel besser hierher als Lis’ Kleidung. Der Torwächter sprang in den Gang und verschloss die Tür von innen, indem er einen gewaltigen Holzriegel vorschob und mit einem scharfkantigen Stein verkeilte.
    Im Fackellicht sah Lis ihn zum ersten Mal deutlich und erkannte, dass er kleiner war als ihr Bruder. Er war schlank und drahtig und hatte ein schönes, fein geschnittenes Gesicht. Das schwarze Haar war halblang wie das von Levin, die blauen Augen wirkten melancholisch, doch wachsam. In seinem rechten Auge leuchtete ein Lichtreflex. Bei genauerem Hinsehen entpuppte er sich als heller Pigmentfleck, der in der tiefblauen Iris aussah wie ein goldener Tupfen. Verstohlen strich sich Lis die Haare über das Brandmal.
    Das rothaarige Mädchen nahm die Fackel von der Wand und ging voraus. Leise schlichen sie durch mehrere Gänge aus Stein und roter Erde. Die Stollenwände waren mit rohen Holzbrettern abgestützt, es roch nach Erde und nassem Salz. Endlich, als Lis schon aufgegeben hatte, sich die vielen Rechts-links-Abzweigungen für einen Rückweg zu merken, gelangten sie in eine niedrige Kammer, die in einen steil ansteigenden weiteren Tunnel mündete. Das Mädchen band seinen Rock hoch und kletterte geschickt voraus. Der Junge sah Lis prüfend an und hielt ihr dann die Hand hin. Lis zögerte. doch schließlich nickte sie und nahm die Hilfe an. Gemeinsam zogen sie sich ein paar Meter in die Höhe, schlitterten, rutschten aus, doch sie ließen sich nicht los, bis sie schließlich in einem Vorsprung bei der rothaarigen Frau standen, die eine Fackel in der Hand hielt. Ohne Lis noch einmal anzuschauen kletterte der Junge wieder nach unten, um Levin zu helfen. Lis schaute hoch. In der Decke war ein Schacht. Die Frau hob die Fackel in die Öffnung und sofort erschienen Hände, die sich ihr entgegenstreckten, ihr die Fackel abnahmen und sie hinaufzogen. Lis hörte Flüstern und Rufen. »Zoran, schnell, die Kuriere sind da!«
    Große Hände mit schwarzen Rändern unter den Fingernägeln fassten nach Lis’ Armen, schon wurde sie mit einem Ruck emporgezogen. Für einen Moment verlor sie die Orientierung, und als sie festen Boden unter den Füßen spürte, sah sie, dass sie in einem halbrunden Raum war, in dem ein Feuer brannte. Der Rauch zog durch einen großer Schacht ab. Mitten im Raum befand sich eine Art Lagerplatz, wo mehrere Menschen saßen und die Neuankömmlinge mit offenem Mund anstarrten. Es roch nach brennendem Holz, nach Fett und Fisch und feuchtem Tierfell. Im Hintergrund erkannte Lis, dass auch der Stall unter demselben Dach wie das Wohnhaus war. Stämmige, kleine Pferde und zottelige Rinder wandten die Köpfe und äugten zu den Fremden herüber. Vier riesige schwarze Hunde mit glattem Fell und gefährlich aussehenden kantigen Kiefern hoben die Nasen und winselten. Unwillkürlich stellte sich Lis näher zu Levin, der inzwischen auch aus dem Schacht hinaufgezogen worden war. Etwa fünfzehn Menschen in dem niedrigen Raum blickten ihnen neugierig entgegen. Wie das Mädchen mit dem roten Haar betrachteten auch sie fasziniert und ungläubig Lis’ leuchtend rote Jacke. Lis bemerkte, dass die Menschen, die offensichtlich eine Art Versammlung abhielten, alle grob gewebte Kleidung trugen. Sie erinnerten sie an Abbildungen von Menschen aus der Bronzezeit, die sie in einem Buch gesehen hatte. Die meisten Kleider waren knöchellang, aber sowohl die Männer als auch viele der Frauen trugen darunter noch weite Hosen aus Leinen. Bei zwei oder drei Menschen glaubte Lis erraten zu können, welchen Stand sie hatten und welchen Berufen sie nachgingen. Der hagere Mann, der erstaunlich braun gebrannt war und an dessen Gürtel ein kleines Netz und mehrere Haken befestigt waren, mochte ein Fischer sein. Und die junge Frau mit den feinen Händen, die sich ein dünnes Tuch in leuchtenden Gelb- und Grüntönen um die Schultern geschlungen hatte, musste bestimmt keine harte Arbeit verrichten. Vielleicht gehörte sie zu den Edelleuten – falls es in dieser Gesellschaft so eine Unterteilung gab. Manche der Frauen trugen filigranen Silberschmuck, viele, auch die Männer, hatten langes Haar, in das Perlen und Korallenstücke eingeflochten waren. Sie wirkten wie vergessene Vertreter einer sehr alten Zeit. Die meisten dieser Menschen waren nicht besonders groß. Das rothaarige Mädchen, das einen Kopf größer war als Lis,

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