Die Rückkehr der Zehnten
Faszination, in einen fremden Charakter zu schlüpfen und jemand ganz anderes zu sein, jemand, dessen Wort mächtig und wichtig war. Jemand, der wusste, was er tat, und alle Antworten parat hatte.
»So ist es! Das Zeichen hat uns gerufen«, sagte er nun. »Das Zeichen der Desetnica, der zehnten Tochter!« Seine Stimme sank zu einem dämonischen Flüstern. »Der Unglücksbringerin!«
Wieder ging ein Zischen und Raunen durch die Gruppe. »Wir glauben nicht an das Unglück, das sie bei ihrer Rückkehr über die Stadt bringen wird«, sagte der Anführer. Wachsamkeit lag in seinem Blick.
»Auch wir nicht«, erwiderte Levin leise und sah ihn mit festem Blick an. Lis bewunderte ihn dafür, wie schnell und selbstverständlich er auf den Einwand reagiert hatte.
»Sie könnten Späher der Priester sein!«, sagte eine Frau im Hintergrund. Lis schauderte und beobachtete, wie einige Hände zu Gürteln glitten, an denen Messer mit gewellten Klingen befestigt waren. Ihr Magen schien zu flattern, so übel wurde ihr bei dem Gedanken, dass eines dieser Messer in ihre Nähe kommen könnte. Warum hatte sie unbedingt den Holzpfad betreten müssen?
Levin lachte ein erwachsenes, nachsichtiges Lachen. Mit einer theatralischen Geste warf er plötzlich seinen Umhang ab und zog sich das T-Shirt über den Kopf. Mit offenem Mund sahen die Anwesenden zu, wie er es mit einem eleganten Schwung zu Boden warf. In Jeans stand er da, mit weißem Oberkörper, der in diesem Jahr noch keine Sonne gesehen hatte. Unter den Menschen mit ihrer Bronzehaut wirkte er wie eine überirdische Erscheinung. Nun breitete er die Arme aus. »Ich trage keine Waffen, seht ihr?«, rief er und drehte sich um die eigene Achse. »Das einzige Schwert ist meine Priestermacht, und ich bin gesandt von meinem Gott, dem grausamen Swantewit, um euch beizustehen.« Seine Stimme wurde leise und geheimnisvoll. »Vor dreißig Nächten sah ich im Traum das Gesicht der zehnten Tochter. Sie rief mich und bat mich, ihr zu helfen und ihre Feinde zu vernichten. Ich ging zum Hüter der vergessenen Schätze, zu Kajetan, dem Propheten in seinem Palast aus Stein. Und er sagte, ich solle zu der einsamen Stadt im Meer gehen, in die Stadt der Desetnica, bevor der Mond wieder seine Kraft verliert.«
Im Raum war es so still geworden, dass man kein Atmen, kein Scharren hörte. Lis spürte, wie die Angst vor den undurchdringlichen Gesichtern ihr die Kehle enger und enger werden ließ.
»Und hier sind wir«, schloss Levin mit theatralischer Demut. »So, wie Swantewit es befahl. Dreißig Tage und Nächte sind wir gewandert und haben schreckliche Gefahren überlebt. Lisanja und ich. Nun ist es an euch – nehmt uns auf und lasst uns helfen. Oder tötet uns und nehmt damit den Zorn Swantewits, des Gerechten, auf euch.«
Lis biss sich auf die Lippe und duckte sich. War Levin wahnsinnig? Eine viel zu lange Minute herrschte Stille, ratlose, hoffnungsvolle und misstrauische Blicke trafen sich, dann, nach und nach, fühlte Lis, wie die Spannung im Raum nachließ.
Der Anführer lächelte zum ersten Mal.
Plötzlich sprachen alle durcheinander und scharten sich um Lis und Levin. Lis spürte verstohlene Hände an ihrer Regenjacke und hörte Rufe des Erstaunens. Sie nahm wahr, dass ihre Knie vor Erleichterung weich und zittrig wurden. Die Gefahr war offensichtlich vorüber – für den Moment.
»Woher kommt ihr, Karjan?«, fragte der Anführer. »Wenn du und deine Dienerin dreißig Tage und Nächte gewandert seid, muss es ein fernes Land sein, aus dem ihr hierher gerufen wurdet.«
Levin holte Luft und machte wieder eine herrische Geste. »Das ist wahr. Wir kommen aus der Stadt Arkona. Sie liegt im Land Rügen, weitab von hier im Reich der Germanen. Wir durchwanderten das Gebiet der Sueben und flüchteten vor den Avaren. Doch nun sind wir hier, um dem Zeichen zu dienen im Namen Swantewits des Mächtigen.«
Bei der Erwähnung der Germanen und Sueben sah Lis wieder die Ratlosigkeit auf den Gesichtern aufflackern und verspürte einen neuen Anflug von Angst. Warum musste Levin gleich so dick auftragen? Doch offensichtlich akzeptierten sie die Antwort, denn der Anführer nickte.
»Setzt euch zu uns und esst. Wenn das Zeichen euch hergeführt hat, steht ihr unter unserem Schutz.« Er lächelte Levin mit einem grimmigen Lächeln zu. »Ich bin Zoran, das Haupt des geheimen Rates der Desetnica.«
Levin nickte ernst. Lis tat es ihm nach, obwohl sie kaum beachtet wurde. Mägde schienen hier kein besonderes Ansehen
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