Die Rückkehr der Zehnten
gedacht, dass es so einfach sein würde.«
»Levin, was geht hier vor? Wir müssen so schnell wie möglich zurück – glaubst du, wir können uns rausschleichen, wenn die anderen schlafen?«
Er sagte lange nichts. Als er wieder sprach, erschrak sie darüber, wie unsicher und beinahe ängstlich seine flüsternde Stimme klang. »Wir brauchen nicht rauszuschleichen, Lis. Wir träumen, glaube ich. Morgen werden wir aufwachen, die Sonne wird ins Zimmer scheinen. Wir träumen, Lis.« Er lächelte, sie konnte seinen Mundwinkel im glimmenden Licht erahnen. »Aber es ist ein wunderschöner Traum! Ich wünschte, ich müsste nie wieder aufwachen.«
Lis schwieg und dachte nach, bis sein Atem immer tiefer und langsamer ging und sie wusste, dass er eingeschlafen war. So unwirklich kam ihr der Geruch nach grob gegerbtem Leder und altem Fell vor, dass sie die Augen schloss und bereitwillig in den Schlaf hinüberglitt. Morgen fahren wir mit dem Auto nach Postojna, dachte sie. Und wenn ich das Medaillon auf dem Nachttisch anschaue, werde ich sehen, dass es wieder alt und verkrustet ist.
Das Klingeln des Weckers störte ihren Traum. Hinter ihren geschlossenen Lidern schwebte das Gesicht aus dem Medaillon, ein Mädchen namens Tona lächelte ihr zu, drehte sich im Tanz und verschwand. Hunde knurrten. Lis blinzelte und strich sich mit der Hand über die Augen. Etwas kitzelte ihre Wange, und der Wecker klang ungewohnt klimpernd und hell. Und warum klingelte er? Sie war doch im Urlaub bei Onkel Miran.
»Sie ist aufgewacht!«, sagte eine Mädchenstimme. Das Geklingel hörte abrupt auf, und als Lis die Augen aufschlug, fand sie sich in der Hütte wieder, in der sie gestern eingeschlafen war. Das, was sie an der Wange gekitzelt hatte, war das Fell, auf dem sie gelegen hatte. Nicht weit von ihr lagen die riesigen Hunde und nagten in aller Ruhe an einem Stück Rinderschädel. Und das Geklimper stammte von einer Kette aus Silberplättchen, die eine dunkelhäutige, dünne Frau um den Hals trug. Offensichtlich war sie damit beschäftigt, in einer grob geschnitzten Holzschüssel einen Teig anzurühren, und bei jeder Bewegung klimperte ihr Schmuck wie Glöckchen. Eisiger Schreck umfing Lis, Panik drohte sie zu übermannen. Gehetzt sah sie sich nach Levin um, doch das Fell neben ihrem war leer. Nur seine Jeans und sein T-Shirt lagen dort. Im Bruchteil einer Sekunde lief ein grauenhafter Film vor ihrem inneren Auge ab: Levin, wie er nachts gefangen genommen worden war und nun irgendwo nackt in einem Verlies hockte. Levin, der unauffindbar verschwunden war, vielleicht sogar schon tot…
»Karjan ist mit Zoran zum Tempelplatz gegangen«, sagte eine vertraute Stimme neben ihr.
Lis zuckte zusammen und fuhr herum. »Tona!«
»Du brauchst nicht zu erschrecken. Bei uns bist du in Sicherheit«, sagte Tona und reichte ihr einen Becher mit dampfend heißer Flüssigkeit. »Hier werden euch Niams Späher nicht finden.«
Noch nie hatte sich Lis so schutzlos gefühlt, und noch nie hatte sie sich so danach gesehnt, ihren Bruder in der Nähe zu haben. Warum hatte er sie allein gelassen? Mit zitternder Hand nahm sie den Becher an und verschüttete das heiße Gebräu, das ihr wie Lava über die Finger schwappte. Schnell stellte sie den Becher auf dem Boden ab und schüttelte wütend über ihre Ungeschicklichkeit die Hand. Tona sah sie erstaunt an und streckte die Hand aus. Sacht strich sie Lis über das Haar. »Du hast Angst, nicht wahr?«
Lis spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen, sie senkte den Kopf und nickte. Plötzlich zog Tona sie zu sich heran und nahm sie einfach in die Arme. Ihr langes Haar roch nach Rauch und getrockneten Kamillenblüten. Lis ließ sich in die Umarmung hineinsinken und schloss die Augen.
»Wir haben alle Angst, Lisanja. Ich weiß so gut, wie es ist, allein und verzweifelt zu sein. Du bist weit gewandert und hast mehr Leid und Blut gesehen, als ein Mädchen sehen darf.« Ihr Gesicht war weich und voller Mitgefühl. »Vielleicht tröstet dich das«, sagte sie und zog das Medaillon aus einem Beutel an ihrem Gürtel. Noch blanker poliert blinkte die Kette, das Medaillon baumelte hin und her.
»Du hast die Kette repariert!«, flüsterte Lis und nahm das Schmuckstück andächtig in die Hand. Tatsächlich war das zerrissene Kettenglied durch ein neues, etwas helleres ersetzt worden.
»Nicht ich, Matej hat die Kette heute Morgen wieder hergerichtet. Nimm sie und dann trink einen Schluck! Du wirst sehen, das wird dir
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