Die Rückkehr der Zehnten
leise. Lis machte sich bewusst, dass sie gemeint war, und drehte sich zu dem Mädchen um. »Karjan sagte, du hast die Gabe des siebten Gesichts. Was bedeutet das?«
»Das ist… nur eine Redensart.«
»Sie liest die Zukunft aus den Knochen von Eidechsen«, warf Levin ein und lachte. Lis fühlte, wie wieder die Wut auf ihn hochkochte. Er machte alles nur noch schlimmer!
»Wirklich?«
Tona lachte und rückte näher an sie heran. »Ich kenne mein Schicksal noch nicht. Wirst du meine Zukunft lesen?«
Lis wurde rot und nestelte nervös an ihrem Kragen herum. Doch ehe sie antworten konnte, wurden Tonas Augen groß. »Was hast du da? Eine Verwundung?«, fragte sie und zupfte an dem Kragen der Regenjacke. Mit einer schnellen Handbewegung hatte Lis sich ihr Haar über den Hals gebreitet, doch es war zu spät. Tona hatte den hässlichen, dunkelroten Fleck gesehen.
»Entschuldige«, sagte Tona. »Es sah aus, als hättest du dich dort verbrannt. Wir haben gute Salben gegen Verbrennungen.«
»Hier nützt keine Salbe«, erwiderte Lis giftiger, als sie beabsichtigt hatte. Tonas Lächeln verschwand, sie machte eine entschuldigende Geste und zog sich zu den anderen zurück, die gebannt dem Gespräch zwischen Levin und Zoran lauschten.
Bald darauf staunte auch Lis mit offenem Mund, wie geschickt und mühelos sich Levin in die Rolle des fremden Hohepriesters einfand. Natürlich hatte er jede Bewegung, jede Geste und jeden Gesichtsausdruck schon hundertmal auf seinen Spielwochenenden eingeübt, aber dass er seine Rolle so perfekt beherrschte, als würde er seit jeher in einer Parallelwelt leben, davon hatte sie nichts gewusst. Im Schein des Feuers und der schwelenden Fackeln kam ihr Bruder ihr unwirklich und fremd vor.
Größer und viel erwachsener wirkte er. Macht strahlte von ihm aus. Mit Feuereifer beantwortete er jede von Zorans Fragen, erzählte über den Swantewit-Kult auf Arkona, beschrieb imaginäre Menschen und Herrscher, denen er gedient hatte, und schwang seinen Priesterstab, als er erfundene Kämpfe gegen avarische Horden lebendig werden ließ. Lis wurde schwindlig bei der Fülle der Details, die er wiedergab. Sie hoffte, dass sie sich wenigstens die Hälfte dessen, was er erzählte, würde merken können. Schließlich konnte es sein, dass die rothaarige Tona noch einmal nachfragte. Beinahe greifbar spürte sie, wie das Vertrauen der Menschen zu Levin wuchs, wie sie ihm ihre Herzen öffneten. So kannte sie ihn. Charismatisch, mitreißend und ansteckend in seiner Begeisterung.
Sie lauschten ihm so gebannt, dass sie gar nicht bemerkten, wie Matej wieder in den Raum kletterte. Die Gespräche verstummten.
»Sie haben die Kuriere«, flüsterte Matej. »Sie müssen kurz nach Sonnenuntergang versucht haben zur Stadtmauer zu gelangen. Aber Niams Späher hatten sie schon auf dem Festland entdeckt. Sie hatten keine Möglichkeit, den Wachen zu entkommen.«
Zoran sprang auf, wobei er seinen Tee verschüttete. »Sind sie im Priesterturm?«
Matej hob in einer Geste der Hilflosigkeit die Schultern.
Zoran durchmaß mit langen Schritten den Raum und griff in einen Haufen hingeworfener Stoffe und Felle. Er zog einen langen Umhang hervor, warf ihn sich über und legte Matej die Hand auf die Schulter. »Borut! Nimm die Hunde, wir gehen zu Zlata! Und Tona… du kümmerst dich um unsere Gäste. Gib ihnen ein Lager für die Nacht.«
Schon waren sie bei der Holztür, die aus mächtigen, unregelmäßig geschlagenen Brettern gefertigt war. Kühle Nachtluft wehte herein und ließ die Fackeln aufflackern. Lis fröstelte.
»Du solltest ein anderes Kleid bekommen«, sagte Tona zu ihr. »Wenn du so durch die Stadt gehst, wirst du auffallen.« Ihre Stimme klang traurig und abwesend. »Morgen werde ich sehen, dass ich eines für dich finde. Bis dahin ruht euch aus. Dort beim Kamin seht ihr zwei Felle. Da könnt ihr schlafen.«
»Danke, blumenschöne Tona«, erwiderte Levin leichthin.
Tona sah ihn überrascht an, dann strich sie sich mit einer verlegenen Geste das Haar aus der Stirn und lächelte flüchtig.
»Meinst du nicht, dass du übertreibst?«, flüsterte Lis. Im Halbdunkel der Kaminglut erkannte sie Levins Gesichtszüge nur schemenhaft, aber am Glanz seiner Augen konnte sie sehen, dass er noch wach war. Die Felle, auf denen sie lagen, rochen trocken und modrig, Lis sehnte sich in ihr viel zu weiches Gästebett bei Onkel Miran und Tante Vida.
»Wieso, es hat doch prima geklappt?«, antwortete er müde. »Ich hätte nicht
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