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Die Rückkehr der Zehnten

Titel: Die Rückkehr der Zehnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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und der Mann mit dem schwarzen Bart, der ihnen aus dem Schacht geholfen hatte, schienen hier schon eine Ausnahme zu sein. Langsam, als würde er sich erst allmählich an die üblichen Gebräuche erinnern, hob der Mann mit dem Bart die Hand zu einem angedeuteten Gruß und lächelte. »Seid willkommen in unserer Stadt«, sagte er in einem so fremd klingenden Slowenisch, dass Lis nicht sicher war, ob sie ihn richtig verstanden hatte.
    »Willkommen, Kuriere der geheimen Pfade, ihr müsst hungrig und erschöpft sein«, fügte eine Frau hinzu, die so alt war wie Lis’ und Levins Mutter. Auch sie sprach seltsam, ein wenig klang es so, als würde sie durch die Nase sprechen und die Vokale auf übertriebene Art dehnen. Ihre Wortwahl war so altertümlich, dass Lis das Gefühl hatte, sie würde aus einem mittelalterlichen Buch zitieren. Sie und Levin blickten sich beunruhigt an, im Gesicht ihres Bruders las sie dieselbe Ratlosigkeit, die sie selbst fühlte. Ein Schweigen entstand, das immer unangenehmer wurde. Lis spürte, wie sie errötete. Hilfe suchend wandte sie sich zu dem schwarzhaarigen Jungen um, doch auch er sah sie nur erwartungsvoll und ernst an.
    Schließlich griff sie langsam in ihre Anoraktasche und zog das Medaillon hervor. Die Menschen flüsterten und stießen sich an, doch sie sagten nichts. Nach wenigen Sekunden war bereits wieder bedrohliche Stille eingekehrt.
    So abrupt, als hätte ihm jemand einen Schubs in den Rücken versetzt, trat Levin plötzlich in die Mitte des Raumes, wo er sich aufrecht hinstellte und seinen Mantel schwang. Die Hunde knurrten. Ein mürrisch aussehender, langhaariger Mann ohne Zähne wies sie mit einem gezischten Befehl in ihre Schranken.
    Erstaunt blickte Lis ihren Bruder an. Was hatte er vor? Plötzlich sah er sehr gefasst aus. Seinen Priesterstab trug er wie ein Zepter und machte eine angedeutete Verbeugung vor dem bärtigen Mann, der offenbar der Anführer der Versammlung war. Levins Stimme war tiefer und energischer als sonst, sein Blick wurde hart, eine Zornesfalte erschien zwischen seinen Brauen. »Karjan sein!«, sagte er in seinem Slowenisch mit dem deutschen Akzent so würdevoll, dass Lis ihn mit offenem Mund anstarrte. »Karjan werde ich genannt, Hohepriester von Swantewit, dem Mächtigen, dem Viergesichtigen! Und dies…« – er wirbelte herum und deutete auf Lis – »… ist Lisanja, meine Magd und Hüterin des siebten Gesichts. Wir sind Reisende!«
    Lis presste die Lippen aufeinander und widerstand der Versuchung, ihm auf der Stelle einen Schienbeintritt zu geben. Seine Magd! Wütend funkelte sie ihn an, doch er zwinkerte ihr nur zu und stellte sich hoch erhobenen Hauptes hin. Überraschung spiegelte sich in den Gesichtern der Anwesenden. Ein aufgeregtes Raunen ging durch die Gruppe. Lis hörte mehrmals das Wort »Kuriere« heraus.
    Schließlich trat der große Mann vor und deutete auf Lis’ Medaillon. »Ihr tragt das geheime Zeichen der Kuriere«, sagte er. »Sonst hätte unser Torhüter euch nicht eingelassen. Aber wenn ihr das Erkennungszeichen tragt – wie könnt ihr da fremde Reisende sein?«
    »Das Medaillon haben wir im Meer gefunden«, sagte Lis wahrheitsgemäß.
    Der Torwächter mit den blauen Augen sah sie bestürzt an und wandte sich an den Anführer. »Dann haben die Wachen die Kuriere entdeckt«, flüsterte er ihm zu.
    »Vielleicht nicht«, gab das rothaarige Mädchen zu bedenken. »Möglicherweise haben sie nur ihr Erkennungszeichen verloren.«
    Ihr Einwand verhallte wie ein Ruf in einem einsamen Wald. Mit düsteren, undurchdringlichen Mienen wandten sich die Menschen wieder Lis und Levin zu. Unwillkürlich wichen die Zwillinge einen Schritt zurück. Eine unausgesprochene Drohung lag in der Luft. Nun hatte auch der Letzte begriffen, dass sie Eindringlinge in der geheimen Versammlung waren. Die Hunde witterten die Anspannung und erhoben sich mit gesträubtem Nackenfell. Diesmal rief der zahnlose Mann sie nicht zur Ruhe.
    Lis schluckte und räusperte sich. Ihre Stimme zitterte, als sie zu sprechen begann. Instinktiv versuchte sie die gedehnte Aussprache der Menschen hier zu imitieren. »Wir kennen das Zeichen«, sagte sie. Mit fahrigen Fingern öffnete sie das Medaillon und zeigte das Porträt in die Runde. »Es hat… äh… Karjan… und mich gerufen.«
    Levin atmete hörbar aus und hob dann seinen Priesterstab. Furcht erregend wirkte er, das lange Haar fiel ihm ins Gesicht. Er hätte ein junger Schamane sein können. Mit einem Mal verstand Lis die

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