Die Rückkehr der Zehnten
und ich waren im Palast, als eine brennende Statue sie und mich traf. Mir hat sie nur den Rücken gebrochen, Danila aber wurde erschlagen.« Sie seufzte und wischte sich über die Augen, als wollte sie ein schreckliches Bild vertreiben.
»Die Priester sagen, das sei Poskurs Strafe dafür, dass die Desetnica nicht dem Feuer übergeben worden war«, flüsterte Tona. »Und Fürst Dabog gibt sich die Schuld am Tod seiner Frau und tut bei den Priestern Buße für seinen Frevel.«
»Poskur ist ein grausamer Gott«, flüsterte Zlata. »Ein grausamer Gott.« Sie tastete nach einer kleinen abgegriffenen Holzfigur der Göttin Nemeja und nahm sie in die Hände.
Zoran setzte sich an ihr Bett und legte ihr die Hand auf den Arm. »Zlata!«, begann er. »Was sagt das Orakel?«
Die alte Frau blinzelte und sah ihn ernst an. »Befreit die Kuriere«, sagte sie und sah Lis direkt in die Augen. »Wenn ihr zulasst, dass die Kuriere im Feuer der Rache sterben, wird die Stadt vernichtet werden.«
»Wann kommt die Desetnica?«, beharrte Zoran. »Es wurden Schiffe vor der Stadt gesehen. Die Wache rüstet sich gegen den Ansturm. Die Bauern erzählen, dass Teile ihrer Felder verwüstet wurden, Hufspuren durchpflügen die Wiesen und Felder. Sie haben Angst, ihrer Arbeit nachzugehen. Gerüchten zufolge sollen unsere Krieger sie demnächst auf den Feldern bewachen.«
Plötzlich veränderte sich Zlatas Stimme. Noch tiefer und fester klang sie, ihre Augen schienen zu glühen. »Die zehnte Tochter kommt, wenn ihre Zeit gekommen ist. Befreit die Kuriere! Sie bringen eine wichtige Botschaft von ihr!«
Sie schloss die Augen und ließ sich zurücksinken. Lis fröstelte. In dem halbdunklen Zimmer, am Bett dieser Frau, fühlte sie sich mit einem Mal nackt und durchschaut, am liebsten wäre sie hinausgestürzt. Sie mussten zurück in ihre eigene Zeit, in ihre Stadt. Verstohlen, aber nachdrücklich stieß sie Levin an und gab ihm ein Zeichen. Gemeinsam zogen sie sich zurück und traten hinaus in die Sonne.
Sie standen in einem kleinen lichtdurchfluteten Innenhof, der offensichtlich leer war. Ein Baum mit Blättern, wie Lis sie noch nie gesehen hatte, war in einen steinernen Trog gepflanzt. Schwere, blaugelb gesprenkelte Blüten in der Form von Schlangen hingen fast bis zum Boden. Ihr Duft war intensiv und betäubend. Lis fühlte sich an das Räucherwerk in Zlatas Kammer erinnert. »Levin, wir haben nicht geträumt. Wo sind wir hier?«, flüsterte sie ihrem Bruder auf Deutsch zu. »In welcher Zeit?«
Er rieb sich die Augen. Plötzlich sah er müde und grau im Gesicht aus. »Ich weiß es nicht, Lis. Dieser Museumswächter – Kajetan hieß er, nicht wahr? Er könnte uns diese Frage vielleicht beantworten. Ich habe Zoran gefragt, aber sie haben eine seltsame Zeitrechnung, von der ich noch nie etwas gehört habe. Sie beten zu diesem Rachegott Poskur und der Meeresgöttin Nemeja. Von denen habe ich ebenfalls noch nie etwas gehört – und ich kenne eine Menge alter heidnischer Götter. Sie wissen nichts von den Avaren, nichts von den Germanen, und auch einen Römer haben sie noch nie gesehen. Onkel Miran hat mir mal erzählt, dass die Slowenen zur Zeit der Völkerwanderung aus den Alpen eingewandert sind. Vielleicht sind wir im sechsten oder siebten Jahrhundert gelandet, wer weiß? Vielleicht hat uns aber auch am Leuchtturm der Blitz getroffen und nun liegen wir in einem Krankenhaus und träumen im Koma in einer Fantasiewelt vor uns hin?«
»Glaubst du das im Ernst?« Sie kniff ihn in den Arm und lächelte, als er zusammenzuckte. »Ziemlich real für ein Koma, oder?«
»Ziemlich real für ein Computerspiel«, antwortete er nachdenklich.
»Was meinst du denn damit?«
Er machte eine große Geste, die all das umfasste, was sie sahen. »Na, sieh dir das alles hier an. Fremde Blumen, eine andere Zeit, geheimnisvolle Legenden, fremde Götter – es ist wie ein Adventure und funktioniert nach den gleichen Gesetzen. Wir haben ein Orakel, ein Geheimnis, wir haben eine Tragödie, die vor langer Zeit geschah, außerdem Gefangene im Turm und eine Stadt, die kurz vor einem Krieg steht.« Er lachte auf, als wäre er verrückt geworden.
Lis wurde ernst. Sie nahm ihren Mut zusammen und stellte ihm die Frage, die sie schon den ganzen Tag bewegte.
»Levin«, flüsterte sie. »Glaubst du, wenn es Nacht wird und wir vor die Stadtmauer gehen – kommen wir dann wieder nach Piran? Ich habe Tona erzählt, dass ich meine Eidechsenknochen vor der Stadtmauer verloren habe.
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