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Die Rückkehr der Zehnten

Titel: Die Rückkehr der Zehnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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Armen. Manche der Frauen hatten Goldstaub auf den Wangen, was ihnen ein überirdisches Strahlen verlieh, als wären sie zum Leben erwachte Statuen.
    Mokosch ging mit schnellem Schritt über den Hof und betrat durch eine schmale Holztür einen Seitengang. Lis brauchte einen Moment, um sich klar zu werden, was sie so irritierte, dann fiel es ihr ein: Der Innenhof des Palastes erinnerte sie an den Platz vor dem Priesterhaus. Obwohl es kleiner war als der Palast, schienen beide Gebäude auch vom Grundriss her spiegelbildlich erbaut zu sein. Sie folgte Mokosch über eine lange Treppe aus verzierten Holzstiegen, dann standen sie schon in einem weitläufigen, luftigen Raum. Der Anblick raubte Lis den Atem.
    Stoffe in den verschiedensten Rot- und Kupfertönen wehten im Mittagswind. Die Sonne war hervorgekommen und gab durch riesige gemauerte Fenster den Blick frei auf ein glitzerndes Meer. Es war, als würde man direkt auf der Stadtmauer stehen, Lis nahm an, dass die Außenwand des Palastes sogar ein Teil der Stadtmauer war. Von hier aus konnte die Fürstenfamilie mühelos den Golf von Venedig überblicken.
    »Geht endlich«, sagte Mokosch und wartete ungeduldig, bis sich die Wächter zurückgezogen hatten. Lis spürte mehr, als sie sah, wie die Fürstentochter neben sie ans Fenster trat. Die Sonne und der blaue Himmel färbten das Meer türkis und im tieferen Gewässer dunkelblau. Fischerboote fuhren an der Küste auf und ab. In der Ferne sah Lis eine Gruppe flinker, schwarzer Körper, die durch das klare Wasser schossen. Es mochten Delfine sein.
    »Wer bist du?«, fragte Mokosch ohne sie anzusehen. »Warum weißt du etwas über meine Träume? Hat Zlata dir davon erzählt?«
    »Nein«, antwortete Lis wahrheitsgemäß. »Die Eidechse sprach zu mir, schon lange bevor mein Herr und ich in diese Stadt kamen. Sie sagte mir, dass in Antjana eine Frau lebt, die jede Nacht aufwacht, eine Frau, die ihr wahres Gesicht verbergen muss.« Lis beugte sich zu Mokosch und senkte ihre Stimme. »Ich kann sehen, wie du unter dem Wahnsinn der Götter leidest.«
    »In meinen Träumen kocht das Meer«, flüsterte Mokosch. »Brüllend steigt Nemeja aus den Fluten und wirft die Schiffe der Sarazenen an unsere Ufer.«
    Lis drehte sich um und blickte der Fürstentochter in die Augen. Was sie sah, waren Todesangst und eine seltsam dumpfe Ergebenheit. War es nur der Krieg, der ihr Angst einjagte?
    »Nimm mir diese Träume«, sagte Mokosch. »Wenn du eine Seherin bist, wie du behauptest, dann rufe meine Träume und nimm sie mit dir.«
    Um Zeit zu gewinnen, holte Lis ihre Eidechsenknochen hervor und ging in die Mitte des Zimmers. Dort setzte sie sich, nahm ein Räucherholz, das sie bei Zlata geholt hatte, und entzündete es an einer Opferflamme, die auf dem Altar in der Mitte des Zimmers brannte. Weiße, duftende Rauchschlieren begannen durch das Zimmer zu tanzen.
    »Setz dich zu mir, Mokosch«, sagte sie leise. Die Fürstentochter kam zögernd zu ihr und ließ sich auf die Knie sinken. Ihr Goldschmuck klimperte, als sie zusah, wie Lis die Eidechsenknochen mit einem geschickten Schwung in die Luft warf. Klappernd kamen sie auf dem Steinboden auf. Der Schädel wackelte und blieb dann liegen. Lis runzelte die Stirn und betrachtete die Knochen genau. Fieberhaft überlegte sie, wie sie Mokosch unauffällig ausfragen konnte. »Im Traum siehst du Rache und Blut«, begann sie zögernd. »Niam erscheint dir. Und ich sehe, dass der Priesterturm in deinen Gedanken ist.«
    Mokosch errötete leicht und starrte weiter gebannt auf die Knochen. Lis stupste eine winzige Rippe an und runzelte wieder die Stirn. »Ich sehe auch Nemeja. Auf ihrem breiten Rücken trägt sie ein Kind, ein kleines Mädchen…«
    »Meine Schwester, die Desetnica«, flüsterte Mokosch.
    »Du siehst sie im Traum.«
    Mokosch nickte so heftig, dass ihr Goldschmuck klingelte wie Glöckchen in einer Kirche. »Sie sucht mich. Jede Nacht sucht sie mich. Ihr ist großes Unrecht angetan worden. Sie spricht zu mir und sagt, dass sie zurückkehren wird. Sie ist mein Schicksal. Sie wird uns alle töten, um sich für das Unrecht zu rächen. Ich kann ihr nur das Tor öffnen.«
    »Sagt sie dir, dass sie dich töten will?«
    Mokosch verneinte mit einer Geste. »Aber sie sagt auch nicht, dass sie mich schonen wird. Dennoch bin ich an sie gebunden, mehr als ich an mein Volk, meine Geschwister oder an meine Stadt gebunden bin.« Ihr Blick loderte und ließ sie wie eine Verrückte aussehen. »Das ist dieser

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