Die Rückkehr der Zehnten
sie mit dem Fuß in eine Pfütze getreten, um nun festzustellen, dass sie in einem unendlich tiefen Moorloch feststeckte, aus dem sie sich unmöglich selbst befreien konnte. »Und fliehen kannst du nicht?«, fragte sie.
Mokosch lachte auf. »Die Maschen des Netzes, das Niam um mich gewoben hat, ziehen sich zu. Innerhalb des Palastes kann ich machen, was ich will, aber draußen? Du hast ja gesehen, wie gut ich seit kurzem beschützt werde.« Plötzlich verzog sich ihr Gesicht und sie schlug die Hände vors Gesicht. »Sie suchen die letzten Beweise. Genauso war es mit meiner Mutter«, schluchzte sie. »Immer mehr Wächter waren um sie herum. Einen Abend vor ihrem Tod habe ich von der Desetnica geträumt, sie rief mir zu und warnte mich, doch ich wischte den Traum beiseite. Am nächsten Tag entfachte eine ungeschickte Dienerin ein Feuer im Palast. Die große Statue des Poskur, die im Versammlungssaal über der Treppe hing, fing Feuer, brach herunter und erschlug meine Mutter.«
»Ich weiß«, flüsterte Lis. »Hast du jemandem erzählt, was du vermutest?«
»Nur ihm – Pogoda.«
»Dem Kurier im Turm?«
Mokosch nickte.
Der jüngere Kurier, nehme ich an, fügte Lis in Gedanken hinzu und erinnerte sich an das Gesicht des jungen Mannes. Wer weiß, was Niam mit ihm anstellt, um die Botschaft der Desetnica von ihm zu hören, dachte sie verzweifelt. Hoffentlich ist Levin bald wieder ansprechbar.
Mokosch fasste nach ihrem Arm, erstaunlich kräftige Finger schlossen sich um Lis’ Handgelenk. »Dein Herr ist ein Priester, ich habe gesehen, wie er vor Poskurs Bild um Einlass bat. Wenn du auf Seiten der Kuriere bist, dann wirst du in den Turm gelangen können.« Ihre Stimme bekam einen flehenden Unterton, der Lis beinahe beschämte. »Bitte gib ihm eine Nachricht von mir. Wirst du das tun?«
Lis errötete. Wenn du wüsstest, wie nah du an der Wahrheit dran bist, Mokosch, dachte sie. »Wenn es mir gelingen sollte, werde ich dir Bescheid geben, Mokosch«, flüsterte sie und schaute sich wieder um. Die Tür war nach wie vor fest verschlossen und sie hatten so leise gesprochen, dass man sie unmöglich hören konnte. Dennoch war ihr mulmig zumute. »Glaubst du, dass die Wände hier Ohren haben?«
Die Fürstentochter schüttelte unmerklich den Kopf. »Zlata hat mir einen Zauber gegeben, der ihre Ohren verschließt und Nemejas Rauschen meine Worte übertönen lässt.«
Nun, hoffen wir das, dachte Lis und stand auf. Sie suchte die winzigen Eidechsenknochen zusammen und verstaute sie sorgfältig in dem Ledersäckchen. »Sei trotzdem vorsichtig, Mokosch«, flüsterte sie der zierlichen Frau zu. »Sprich mit niemandem über das, was du weißt. Auch mit Zlata nicht mehr, hörst du? Verhalte dich unauffällig und gehe nicht zu oft in die Nähe des Priesterturms.«
Mokosch wandte sich ab und drehte Lis den Rücken zu. Sie stand am Fenster, ihr langes Haar wehte im Meereswind, der um das Gemäuer strich. Am Zucken ihrer Schultern konnte Lis sehen, dass die Fürstentochter weinte.
Im Palast
D
u hast es also erfahren«, flüsterte Zlata und schloss die Augen. »Aber ich habe es geahnt, schon am ersten Tag, als ich dich sah. In deinen Augen brennt das Licht der Wahrheit, niemand kann dich lange belügen, meine Kleine, nicht wahr?«
Die alte Priesterin lag auf der Seite, ihr silbernes Haar floss über das Bett und vermischte sich mit dem Stroh, das Tona frisch aufgeschüttet hatte. In der Hand hielt sie die kleine Holzfigur der Nemeja, die schon ganz blank und abgerieben war. Zum ersten Mal erkannte Lis, dass auch die alte Priesterin Angst hatte.
»Wenn ihr die Kuriere nicht befreit, wird Mokosch sterben«, flüsterte die Alte. »So viele Kuriere gibt es in der Stadt, doch Niam fängt ausgerechnet ihren Geliebten, dessen Kind sie trägt. Auch Nemeja kann grausam sein. Und ich kann ihr und Pogoda nicht helfen.«
»Kann Zoran nichts tun? Vielleicht könnte er dafür sorgen, dass Mokosch aus dem Palast fliehen kann und bei einem der Kuriere Unterschlupf findet? Dann wäre sie zumindest fürs Erste außer Gefahr.«
Zlatas kristallklare Augen schienen im Licht der Opferflammen Funken zu sprühen. Mit erstaunlichem Schwung wuchtete sie sich hoch und griff nach Lis’ Kleid, zerrte sie zu sich. Lis’ Herz schlug wie ein Wirbel, so sehr erschreckte sie die Kraft, die in dem alten, dürren Körper steckte. »Schwöre, Lisanja, dass du Zoran nichts von Mokosch erzählst!«, flüsterte ihr Zlata zu. Ihre Augen waren Lis so nah, dass sie
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