Die Rückkehr der Zehnten
ich ihr. Ich sah, wie sie an Land von Wanderern aufgelesen wurde, ich sah sie mit gefesselten Händen und verfilztem Haar. Meine Seele begleitete sie nachts in all den Jahren, in denen sie bei den Sarazenen aufwuchs. Ich stand mit ihr in der Waffenschmiede und erlebte, wie sie mit ihrem Schwert, das die Form eines lächelnden Mondes hat, tötete. Ich sah sie im Kampfgewand mit geschorenem Haar und inmitten ihrer Krieger. Ich spürte ihre Wunden und ihre Angst.« Sie seufzte. »Meine Mutter war froh, wenn ich ihr von ihrer verlorenen Tochter erzählte. Sie verriet mich nicht an meinen Vater und die Priester. Ich glaube, im Grunde war sie froh zu wissen, dass ihre Desetnica noch lebte.« Ein Lächeln huschte über Mokoschs Gesicht. »Du gehörst zu ihnen, nicht wahr, zu den Kurieren?«
Alarmsirenen begannen in Lis’ Kopf zu schrillen. Hastig sah sie sich im Raum um, aber da waren keine Wächter, die sie festnehmen wollten. »Ich weiß nicht, was du meinst«, sagte sie schnell. »Ich bin Lisanja, eine Seherin aus Arkona. Ich gehöre nicht zu ihnen, wen immer du damit meinst.«
Mokosch zog die linke Augenbraue hoch, dann griff sie mit einer beiläufigen Geste in den Ausschnitt ihres Kleides und zog eine Kette hervor. Schwer und silbern baumelte daran das Medaillon der Desetnica.
Lis blieb der Mund offen stehen. »Du bist es, die die Kuriere zur Desetnica schickt?«, flüsterte sie.
Die Fürstentochter verzog die Lippen zu einem traurigen Lächeln. »Geschickt habe ich nur einen. Und der sitzt im Priesterturm, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis er mich an Niam verraten wird.«
Immer noch fühlte Lis sich wie ein Tier in der Falle. Sie schlitterte in etwas hinein, das zu groß für sie schien. Eigentlich hatte sie nur einen Blick durch die angelehnte Tür werfen wollen, hinter der das Geheimnis der Desetnica verborgen war, und nun stolperte sie unversehens von Raum zu Raum, und die Räume wurden immer größer und verwinkelter. Immer noch driftete sie in einem Gefühl der Unwirklichkeit und fragte sich, wie es sein konnte, dass sie Mokoschs Gedanken gesehen hatte. War sie wirklich eine Seherin oder gaukelte ihr Unterbewusstsein ihr diese Fähigkeit vor? »Du bist unvorsichtig, Mokosch«, sagte sie. »Ich könnte dich verraten, mein Herr ist Niams Gast.«
»Und was ist das?«, flüsterte Mokosch und berührte eine Stelle in Höhe von Lis’ Herzen. Lis zuckte zurück, als ihr bewusst wurde, dass Mokosch auf ihr Medaillon deutete, das gut verborgen unter ihrem Kleid lag. Ein wissendes Lächeln huschte über das Gesicht der Fürstentochter. »Auch dich habe ich im Traum gesehen«, fuhr sie mit beschwörender Stimme fort. »Deine Hand, auf der die Eidechsenknochen lagen. Meine Schwester sagte mir, ich soll dem Eidechsenmädchen zuhören. Aber hat dir dein Tierchen auch verraten, was mit den Kurieren im Turm geschehen wird?« Ihre Stimme wurde noch leiser. »Mein Traum sagt mir, sie werden im Feuer der Rache sterben.«
Lis schüttelte den Kopf. »Sie werden nicht sterben, auch dein Kurier nicht«, antwortete sie mit fester Stimme, ohne zu wissen, woher sie diese Gewissheit nahm. Vielleicht wollte sie sich selbst beweisen, dass es auch etwas Sicheres, Ungefährliches in dieser Stadt gab. »Ich sehe den Tod nicht, aber ich sehe, dass du gut auf dich Acht geben musst. Sprich mit niemandem, Mokosch. Sei bereit, deine Schwester zu hören, wenn sie nachts zu dir kommt. Und fürchte nicht um dein Leben.«
Ein Anflug von Verachtung huschte über Mokoschs Gesicht.
»Glaubst du wirklich, ich bin so feige, mich vor meinem Tod zu fürchten?«, sagte sie. »Nein, gewiss nicht, mein Leben ist verloren – wenn meine Schwester mich nicht tötet, werde ich Poskurs Zorn nicht entgehen. Was ich auch tue, mein Schicksal wird mich ereilen. Nein, ich fürchte um ein Leben, das Niam mit Begeisterung seinem grausamen Gott opfern wird, wenn er davon erfährt.« Mit einer sanften Geste strich sie sich über den Bauch.
Lis starrte auf ihre Hand und fühlte beinahe, wie die Erkenntnis in ihrem Kopf »Klick« machte. »Du trägst das Kind des Kuriers«, flüsterte sie. »Jetzt verstehe ich. Niam wird dich hinrichten lassen, wenn er das erfährt.«
»Nicht nur Niam«, antwortete die Fürstentochter bitter. »Das Volk, das die Kuriere hasst, wird meinen Tod verlangen. Im Namen Poskurs, des Rächers. Und sie werden das Kind der Verräterin verbrennen. Das kann ich nicht zulassen.«
Lis schauderte. Plötzlich war ihr übel, ihr war, als sei
Weitere Kostenlose Bücher