Die Rückkehr der Zehnten
Stadtmauer zu einem hellen Band im Meer geworden war, ließ sie die Zweige los und schwamm richtig los. Inzwischen war ihr kalt und sie war erleichtert, sich bewegen zu können. Noch sah sie das Festland nicht und hoffte, dass sie auf dem richtigen Weg war. In der Ferne blinkten einige Punkte, vielleicht waren es die Feuer der Truppen. Hoffentlich die Feuer! Levins und ihre letzte Hoffnung.
Die gespenstische Stille machte ihr Angst, noch mehr fürchtete sie sich vor dem überraschenden Platschen in ihrer Nähe, das sich so anhörte, als würden große Fische an die Wasseroberfläche kommen und mit einem schnellen Schlag der Schwanzflosse wieder abtauchen. Obwohl sie sich dagegen wehrte, erstand vor ihren Augen immer wieder das Bild der Bestie, die sie bei ihrem ersten Bummel über den Markt zu Gesicht bekommen hatte. Gerade als sie sich erfolgreich eingeredet hatte, dass es bestimmt ein sehr seltenes Raubfischexemplar war – schließlich hatte sie auf dem Markt nur einen einzigen Fisch dieser Art gesehen –, fielen ihr prompt die blutrünstigen Geschichten ein, die ihr Bojan über die Haie im Mittelmeer erzählt hatte. Angeblich kannte er einen Mann, der vor einigen Jahren einen verirrten weißen Hai auf der Höhe der Stadt Porec aus dem Wasser gefischt hatte. Und außerdem – wer sagte, dass selbst die harmlosen, kleinen Katzenhaie im Meer von Antjana nicht viel größer und gefährlicher waren? Wer wusste schon, welche Größe die Tiere im Wasser in dem Jahrhundert hatten, in dem sie nun im Meer schwamm? Schaudernd erinnerte sie sich an riesige Sägezähne, die die Händler vor dem Priesterplatz als Schmuckanhänger verkauften. Sie fror noch mehr. Außerdem wehte ein kühler Wind von der Seite und trieb sie immer weiter ab.
Sie konzentrierte sich und schwamm ruhig weiter, schnitt den Wind, so gut es ging. Eine kleine Welle nach der anderen schwappte gegen ihre linke Wange.
Müdigkeit begann ihre Arme zu lähmen. Ihr war, als würde sie vor sich hin strampeln ohne von der Stelle zu kommen. Beim Blick zurück sah sie, dass Antjana nur noch ein schmaler Streifen war, aber die Lichter vor ihr schienen nicht größer zu werden. Panik umfing sie mit Armen aus Blei. So musste sich jemand fühlen, der in einem Flugzeug den Atlantik überquerte und mitten auf der Strecke feststellte, dass der Tank nicht ganz reichen würde. Zum Zurückfliegen zu wenig Treibstoff, zum Weiterfliegen auch. Unwillig schüttelte sie den Kopf und schwamm weiter.
Immer wenn sie dachte, sie würde es nicht mehr schaffen, zwang sie sich einen Schwimmzug zu machen, und dann noch einen und noch einen. Ihre Lippen waren gefühllos und sicher blau angelaufen. Wasser schwappte in ihre Nase und trieb ihr die Tränen in die Augen. Wenn sie hier ertrank, würde es niemand bemerken. Levin verbrannt, sie ertrunken, Ende von Swantewit, Ende der Geschichte. Und ihre Eltern würden nie erfahren, was aus ihren Zwillingen geworden war. Noch eine dramatische Schicksalsgeschichte, die die Einwohner von Piran ihren Kindern und Gästen erzählen konnten: »Sie sind nachts rausgeschwommen – und ertrunken. Wahrscheinlich hat die Strömung sie hinausgezogen, denn sie wurden nie gefunden, so wie dieser Matej Kalan vor zwei Jahren. Ja, seltsam, nicht? Also schwimmt nur nah am Strand.«
Lächerlich erschienen ihr diese Worte, so lächerlich wie ihr ganzes bisheriges Leben in der Sicherheit solcher seichten Ratschläge und Regeln gewesen war.
Dunkelheit hatte sich über das Meer gesenkt. Ausgerechnet in dieser Nacht kam der Mond nicht hinter den Wolken hervor. Lis fiel es immer schwerer, sich zu orientieren. Die wenigen Lichtpunkte, die sie noch sah, tanzten auf und ab. Manchmal war sie sich nicht sicher, ob sie nur in ihrem Kopf existierten.
Als sie spürte, wie sie immer wieder unterging, begann ein Kloß in ihrem Hals zu schmerzen. Sie kämpfte gegen die Versuchung an, einfach die Arme nicht mehr zu bewegen, sich hinuntersinken zu lassen in Nemejas ewige Umarmung.
Gerade als sie dachte, nicht mehr atmen zu können, hörte sie den großen Fisch neben sich. Sein riesiger schwarzer Körper glitt heran, hoch ragte eine Finne aus dem Wasser. Lis schrie auf und schluckte Wasser, strampelte, konnte dem Ungeheuer gerade noch ausweichen. Ihre Beine kribbelten vor Entsetzen, reflexartig versuchte sie wegzulaufen, doch sie erreichte nur, dass sie strampelnd unter Wasser sank und sich mühsam wieder an die Oberfläche arbeiten musste.
Ein Rauschen dröhnte neben ihr.
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