Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Rückkehr der Zehnten

Titel: Die Rückkehr der Zehnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
Vom Netzwerk:
umstimmen. Also: Wo ist der Geheimgang?«
    Marzana seufzte und gab endlich auf. »Na gut«, sagte sie niedergeschlagen. »Du gehst in deinen Tod, aber wenn du es selbst willst…«
    Sie stand auf und ging zu dem Schrein, auf dem Firenc die Götterstatuen aufgereiht hatte. Mit einem Ruck schob sie ihn beiseite. Klappernd fielen die Götterfiguren um. Marzana kniete sich hin. Mit ihren Händen brach sie große Platten von dem fest gestampften Bodenbelag heraus und warf die trockene Erde auf einen Haufen. Bald glänzte Schweiß auf ihrer Stirn, aber sie ließ sich nicht helfen. Schließlich kratzten ihre Finger über Holz.
    Eine alte, vermoderte Falltür kam zum Vorschein, die sich trotz aller Bemühungen nicht öffnen ließ. Marzana sprang auf, nahm ihr Schwert und zertrümmerte mit einem mächtigen Schlag, den Lis der fülligen Frau nie zugetraut hätte, das morsche Holz. Ein zackiger Spalt entstand, kaum breit genug für Lis. »Wenn du gehen willst, dann geh jetzt«, sagte die Fürstentochter. »In wenigen Augenblicken werden die Krieger in den Palasthof kommen.«
    Lis nickte und wandte sich an Mokosch. »Marzana wird nicht zulassen, dass dir etwas passiert.«
    Mokosch schluckte die Tränen der Angst hinunter und nickte heftig. Plötzlich fühlte Lis ihre Umarmung und erwiderte sie aus vollem Herzen. Mokoschs Körper fühlte sich dünn und zäh an, Lis spürte, wie schnell ihr Herz schlug. »Leb wohl, Lisanja!«, flüsterte sie ihr zu. »Flieh, wenn du kannst, und nimm dich in Zukunft vor den Sueben in Acht!«
    »Wir sehen uns wieder, Mokosch, ich komme mit der Desetnica zurück und befreie die Kuriere!«
    Lis wischte sich die Tränen ab und stieg mit den Beinen zuerst in den Spalt. Die Zacken kratzten über ihre Haut, als sie sich in die modrige Unendlichkeit fallen ließ. Sie war überrascht, dass der Aufprall schnell kam – der Gang lag kaum tiefer als zwei Meter. Licht kroch über den Boden. Lis schaute nach oben und sah Marzanas Umriss und dann ihr Gesicht. Die große Frau beugte sich vor und reichte ihr eines der Opferflämmchen vom Altar, dann zog sie sich zurück und der Spalt wurde mit etwas Dunklem zugedeckt.
     
    Bleierne Stille senkte sich auf Lis. Sie war allein. Der Gang roch modrig und war so niedrig, dass sie auf den Knien kriechen musste. Mühsam kämpfte sie sich durch die verbrauchte, nach feuchtem Schimmel riechende Luft. Ihre Schulter schmerzte, da sie das Opferlämpchen hochhalten musste. So humpelte sie wie ein dreibeiniger Hund durch den Gang. Die Dunkelheit schien das Licht zu verschlucken, sie konnte kaum weiter sehen als einen halben Meter. So wattedicht und erdrückend war die Stille, dass sie schon glaubte, ihr eigenes Herz und das Rauschen ihres Blutes zu hören. Mit den Fingern und Knien versank sie in dem fauligen Schlamm und stieß an spitze Klumpen, von denen sie gar nicht erst wissen wollte, um was es sich handelte. Im Takt ihrer Bewegungen schlug das Säckchen mit den Eidechsenknochen an ihre Hüfte. Ihre Zähne klapperten vor Kälte und Entsetzen. Immer wieder sah sie das bittende Gesicht ihres Bruders vor sich, sah, wie Niams Schlag ihn mitten ins Gesicht traf. Und sie stellte sich vor, wie er nun im Priesterturm saß, eingesperrt, allein, frierend in der Dunkelheit der fensterlosen Räume. Sein Leben und das der Kuriere hing nun von ihr ab – von ihr und der Desetnica.
    Das Opferflämmchen flackerte auf und Lis erkannte, dass das Rauschen, das sie anfangs für das Geräusch ihres Blutes gehalten hatte, das Tosen der Wellen war, das immer lauter wurde. Ein salziger Luftzug ließ die Flamme größer und heller werden. Und plötzlich erkannte Lis am Ende des Ganges ein zackiges Maul voller Licht.
    Erleichtert blies sie die Flamme aus und kroch rasch auf allen vieren weiter. Der Ausgang war ein Erdloch, vor dem ein verkrüppelter Busch und hängendes Gras wuchsen. Wahrscheinlich war dieser Gang sehr lange nicht benutzt worden. Mit viel Mühe und Luftanhalten drängte sie sich an den widerspenstigen Buschzweigen vorbei und blinzelte ins Licht. Wenn sie ganz aus dem Tunnel herauskroch, würden sie vielleicht die Wächter auf der Stadtmauer entdecken, überlegte sie. Also lugte sie nur vorsichtig zwischen den Gräsern nach oben.
    Direkt vor ihr wuchs die Stadtmauer steil in den Himmel. Ein Wächter war nicht zu sehen, vermutlich stand er einen halben Meter weiter hinten und befand sich deshalb knapp außerhalb ihrer Sichtweite. Lis zog den Kopf ein, kroch, so schnell sie konnte, ganz

Weitere Kostenlose Bücher