Die Rückkehr der Zehnten
aus der Höhle und rannte in den Schutz eines Vorsprungs. Mit klopfendem Herzen blieb sie sitzen.
Vor ihr schimmerte das Meer in der Mittagssonne. So friedlich sah der Spiegel aus, dass Lis zum Weinen zumute war. Grillen zirpten im Buschwerk um sie herum. Die Sonne, die schon im Zenit stand, wärmte sie und ließ den Schlamm auf ihrem Kleid und auf ihren Händen trocknen.
Mit zusammengekniffenen Augen schätzte sie die Entfernung zum nächsten Punkt des gegenüberliegenden Ufers ab. Es sah nah aus, aber sie wusste, dass dieser Eindruck trog. Bis zu der schmalen Landzunge, die sich vor dem breiten Festlandstreifen ins Meer schob, waren es mindestens vier Kilometer. Konnte sie das schaffen? Im Moment sah das Wasser ruhig aus, sie konnte nur beten, dass sie nicht in die von Marzana erwähnten Strömungen geraten würde. Sie hoffte, dass die Fürstentochter, die offenbar nie gelernt hatte zu schwimmen, aus Unwissenheit übertrieben hatte. So wahnwitzig der Plan auch war – sie hatte keine Wahl. Hoffnungslosigkeit drohte sie zu übermannen. Morgen würde Levin sterben – und wenn sie die zehnte Tochter nicht fand? Und wenn sie ihr nicht helfen würde?
Plötzlich hörte Lis ein knackendes Geräusch. Sie hielt den Atem an und zog sich eidechsenflink noch weiter hinter den Vorsprung zurück. Angespannt bis in die letzte Faser ihres Körpers lauschte sie, jederzeit bereit, die Flucht zu ergreifen, um ihr Leben zu rennen – oder sich bis zum letzten Atemzug zu wehren.
Da war es wieder! Jemand schlich an der Mauer entlang. Unwillkürlich tastete sie nach einem großen Stein, den sie hinter sich fühlte, und schloss ihre Hand darum. Du kriegst mich nicht, dachte sie. Atemlos wartete sie, während der schleichende Schritt immer näher kam.
Eine Hand schob sich um einen großen Felsbrocken in der Stadtmauer, dann sah sie eine Schulter und den Bogen einer Wange. Der Unbekannte hatte den Kopf von ihr abgewandt, offensichtlich warf er einen Blick auf den Weg, den er bisher gegangen war, vielleicht um zu prüfen, ob ihm jemand folgte. Dunkles, an den Spitzen sonnengebleichtes Haar fiel ihm fast bis auf die Schultern. Dann drehte er den Kopf und suchte den Strand ab. Quer über Stirn und Nase zog sich ein blutiger Streifen, als hätte ihm jemand einen Schlag versetzt. Seine Augen hatten den gleichen tiefen Blauton wie das Mittagsmeer.
»Matej!« Der Wind trug ihr Wispern zu ihm hinüber.
Erleichterung zeichnete sich in seinem Gesicht ab. Er warf einen raschen Blick nach oben zur Stadtmauer und rannte dann geduckt zu ihr unter den Vorsprung. »Lisanja!«, flüsterte er. »Zlata hatte also Recht, zum Glück!«
Ein Kichern stieg in ihr auf, völlig unpassend und verrückt in dieser Situation, aber sie konnte sich kaum beherrschen. »So, was hat sie denn gesagt?«
»Als ich sie fragte, wo die anderen sind, sagte sie mir, sie sehe nur dich. Du wirst dich in Nemejas Umarmung flüchten…«
»… bevor das Feuer Poskurs mich verbrennt?« Die Lust zu lachen verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Plötzlich fühlte sie sich elend vor Hunger, Müdigkeit und Angst.
Er sah sie prüfend an. »Von Poskurs Feuer hat sie nichts gesagt. Aber als sie von Nemejas Umarmung sprach, dachte ich, dass ich am Meer suchen muss. Ich war bei fast allen Geheimgängen, die zum Strand führen.« Er seufzte. »Das war nicht einfach. Überall sind Krieger.« Sein Lächeln war bitter. »Ich habe gehört, was sie mit Karjan und den anderen vorhaben. Nur sehr wenige von uns konnten entkommen. Zoran…«
Lis nickte nur und sah mit brennenden Augen auf das Meer.
Als Matej weitersprach, zitterte seine Stimme. »… Er ist tot, wie viele andere. Sie und die gefangenen Kuriere sollen morgen als Warnung für die Sarazenen dienen. Auch Karjan.«
»Ich weiß.« Lis wunderte sich, wie fest ihre Stimme klang. »Matej, ich muss die zehnte Tochter finden! Ich schwimme über das Meer zur Landzunge. Dort sind ihre Truppen.«
Er sah sie völlig verblüfft an. »Wie willst du das machen, sie werden dich von der Stadtmauer aus sehen.«
Sie schwieg. Im Moment fiel ihr nichts ein und sie hatte keine Kraft mehr, sich den Kopf zu zerbrechen.
Er bemerkte ihre Erschöpfung, griff in eine Tasche an seinem Gürtel und zog getrocknetes Fleisch und ein Stück Brot heraus. »Hier«, sagte er leise. »Der Tag wird noch lang werden, sehr lang. Wenn er überhaupt endet.«
Sie lächelte schwach und nahm die Sachen an. Matej betrachtete das Meer, während sie aß. Nach und
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