Die Rückkehr der Zehnten
letzten Geheimgang, nicht wahr?« Sie drehte sich abrupt zu Lis um. Graue Augen glänzten kalt und intensiv wie leuchtendes Eis. »Du kennst den anderen Weg. Ich habe auf dich gewartet, um endlich angreifen zu können.«
Lis verstand und senkte den Kopf. Wie in einem Puzzle fügte sich ein Teil zum anderen. Flüchtig dachte sie an Matej, der immer noch am Strand saß und wartete. Vielleicht hatte das alles doch einen Sinn, vielleicht war es doch Schicksal, dass sie und Levin überleben würden. Die Hoffnung lächelte sie verführerisch an, doch sie vertrieb das Trugbild und versuchte sich zu konzentrieren. War es möglich, einige der Krieger durch Marzanas Geheimgang in den Palast zu bringen? »Es gibt einen geheimen Weg, der nicht verschüttet ist, aber der wird nicht genügen, um alle Krieger in die Stadt zu bringen«, flüsterte sie.
Die Augen der Desetnica verengten sich. »Meine Krieger sind geschickt – sie müssen nur bis zu den Stadttoren gelangen und die anderen Wurmgänge freikämpfen.«
Lis begriff, dass die Desetnica bereits ihr ganzes Leben über diesen Kampf nachdachte. In unzähligen schlaflosen Nächten hatte sie Mokoschs Gesicht gesehen und jeden Schritt, jeden Schwertstreich im Voraus bedacht. Wie ein Schachspieler kannte sie jeden möglichen Schachzug auswendig. Lis wusste nicht, ob diese Tatsache sie erschreckte oder beruhigte.
»Die Sonne geht bald auf, aber das Nachdicht ist noch günstig«, sagte die Kriegerin. »Heute werde ich Antjana einnehmen.«
»Wirst du dich an der Stadt rächen? Im Namen Poskurs, im Zeichen der Rache?« Lis konnte sich die Frage nicht verkneifen. »Die Menschen glauben, dass du die Stadt zerstören willst.« Ihr Herz klopfte, als sie auf die Antwort wartete.
Die Desetnica sah sie an, Grausamkeit funkelte für einen Moment in ihrem Blick auf, dann verzog sich ihr Mund zu einem Lächeln, das Lis einen Schauer über den Rücken jagte. »Ich bin eine Unglücksbotin, ja«, erwiderte sie. »Eine Desetnica, die zurückkehrt, gehorcht den Göttern und spielt das alte Spiel nach ihren Regeln. Meine Rolle sieht vor, dass ich Menschen töte und die Stadt, aus der man mich zum Sterben fortjagte, zum Tode verdamme.« Ihre Stimme wurde etwas weicher.
»Andererseits habe ich die Spielregeln schon einmal gebrochen, indem ich am Leben blieb. Nun, ich glaube an Poskur, falls es das ist, was du wissen möchtest. Und ich glaube an den Gott der Sarazenen und an einen Mann, der Wasser zu Wein machte. Ich glaube an Nemeja und sogar an Swantewit, wenn du möchtest, und deshalb glaube ich an nichts – oder an alles, wie man will. Ich glaube, dass all diese Götter nur ein anderer Name für Schicksal sind. Ich glaube an dieses Schwert und an die Stadt, in die ich zurückkehre.«
»Dann willst du Fürst Dabogs Familie nicht töten?« Das Gesicht der Desetnica verhärtete sich wieder, wurde zu einer undurchdringlichen Maske. »Es ist die Vergangenheit, die ich töten will, und die Macht der Priester, die ich zerschlagen werde. Es sind nicht die Götter, die töten, es sind die Menschen, die im Namen der Götter andere Menschen beherrschen. Die Priester beherrschen Antjana und zeigen ihre Macht, indem sie in das Feuer und auf das Meer deuten und im Namen der Götter befehlen, Kinder zu opfern und Menschen zu verbrennen. Und wenn es sie reicher und mächtiger machen würde, würden sie noch einen neuen Götterspruch erfinden, der ihnen befehlen würde, auch das dritte oder vierte Kind zu töten. Oder die eigene Frau, den Bruder, den Fürsten selbst vielleicht. Das Volk glaubt ihnen, weil der Fürst ihnen glaubt.«
»Du willst also die Priesterkaste zerschlagen«, sagte Lis. »Ich werde dir den Weg zum Priesterturm zeigen.«
»Dafür bist du hier«, antwortete Intisar.
Fürst Dabogs Urteil
H
ier, leg das an, das ist das Kürzeste, das ich finden konnte!« Baschir reichte ihr etwas, das aussah wie ein ganzer Arm voll Ketten. Sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass seine Worte ein Befehl waren. Widerwillig streckte Lis die Hand aus und nahm das Kettenhemd an sich. Baschir lächelte kurz, als er sah, wie überrascht sie von dem Gewicht des Hemdes war. Die Röte schoss ihr ins Gesicht, aber sie verkniff sich eine schnippische Bemerkung. Stattdessen entwirrte sie einige Kettenglieder, die sich verfangen hatten, und ließ das schwere Hemd über das Untergewand aus Seidenstoff gleiten, das sie von Baschir bekommen hatte. Grobes Eisen schürfte über ihre Nase, bei der Berührung des
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