Die Rückkehr der Zehnten
aussehenden, dreiverzweigten Spitze. Die Ruhe und Sicherheit, mit der sie mit dieser sperrigen Waffe hantierte, verliehen ihr eine Anmut, die Lis den Atem raubte. Für einen Moment beneidete sie die Kriegerin glühend um die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich ihrem Schicksal entgegenstellte, während Lis am liebsten davongelaufen wäre.
Baschir ritt neben der Desetnica und führte am langen Zügel das Pferd mit, das Lis vor wenigen Stunden auf den Hügel getragen hatte. Mit einer schwungvollen Bewegung warf er ihr den Zügel zu, den sie mühelos fing. Es war sehr anstrengend, sich mit dem schweren Kettenhemd in den Sattel zu ziehen, doch schließlich gelang es ihr, und sie folgte der Desetnica, Baschir und den drei Hauptleuten, die bereits bergab zu den Schiffen ritten.
Am Meer sammelte sich das Fußheer. Erstaunlich viele Krieger waren darunter, die nicht wie Sarazenen aussahen. Lis sah rothaarige und blauäugige Männer und einen Jungen mit langem, hellblondem Haar und kalkweißer Kriegsbemalung auf Gesicht und Armen. Offensichtlich rekrutierte die zehnte Tochter ihre Söldner aus den verschiedensten Ländern. Vielleicht waren einige der Krieger auch Sklaven gewesen so wie sie.
Am Hafen stand die Armee, eine kochende Masse, in der Fackeln und Lanzenspitzen wogten. Nun entdeckte Lis drei weitere große Schiffe. Sie wirkten nicht so schnittig und wendig wie die Sambuq. Auch waren bei diesen Schiffen Bug und Heck nicht gleich gestaltet, vielmehr sah der hintere Teil wie abgeschnitten aus. Bogenförmige, ornamentale Schnitzereien zierten die breite Rückseite und auf dem Deck befand sich ein längliches, flaches Gebäude, das sicher sehr viel Stauraum bot. Ob diese Schiffe für den Transport der Beute gedacht waren, die die Sarazenen bei Antjanas Priestern zu machen hofften?
Die Piratenkrieger setzten die Segel, die Takelage ächzte unter dem Gewicht des schweren Tuchs. Hand über Hand hissten die Schiffsleute im Rhythmus der Kampfgesänge die Segel.
Ein Geräusch wie in einem Fußballstadion erhob sich, als die Desetnica durch das Fußheer ritt. Lis sah in ein Meer von Gesichtern, die zu ihnen hochstarrten. Es waren dunkle und helle Gesichter, runzlige, vernarbte ebenso wie glatte und erstaunlich junge. »Intisar!«, riefen sie, »Intisar!«, während die kleine Gruppe sich dem Strand näherte.
Als das Meerwasser schon die Hufe ihres Pferdes umspülte, riss die Desetnica das Pferd herum und wandte sich ihrem Heer zu. »Saufa nacharib Antjana!«, rief sie in der kehligen Sprache der Sarazenen. Ihre Stimme klang tiefer und fester. Nichts erinnerte mehr an die mädchenhafte Frau, die selbstversunken durch das Fernrohr geblickt hatte. Nun war sie nur noch Kriegerin, ihre Augen sprühten vor Kampflust. Die Hand, die den Speer in den Nachthimmel hob, war hart wie eine Eisenklaue und ebenso grausam.
Das ist eine andere Welt, dachte Lis mit Entsetzen. Ich bin in der falschen Welt, in der falschen Zeit, ich gehöre hier nicht her – ich werde nicht überleben.
In einem rhythmischen Sprechgesang erwiderten die Krieger die Worte der Desetnica, hin und her ging es, bis Lis sich die Ohren zuhielt. Wie eine Vorahnung des Blutes, das an diesem Tag fließen würde, zeigte sich die erste zaghafte Botschaft einer roten Morgensonne am Horizont. Schließlich hob die Desetnica die Lanze. »Heee!«, schrie sie und gab ihrem Pferd die Sporen. Es galoppierte ins Wasser, genau auf eine Sambuq zu.
»Intisaaaar!«, brüllten die Krieger.
Dann begann der Sturm. Wie das Getrampel einer Büffelherde erschien Lis das Geräusch der unzähligen Füße, die über den Strand zu den Schiffen rannten. Lis stieß ihrem Pferd die Fersen in den Bauch und ritt hinter Chalid und Baschir her. Das Meerwasser, das sich kalt um ihre Unterschenkel schloss, ließ sie schaudern. Hoch ragte das Schiff vor ihr auf, und schon streckten sich ihnen Arme entgegen, die sie mühelos in das Schiff hoben.
»Schuf il-ba’yr, yaphaz batl il-charb husan il-charb yalbiz!«, rief ein rothaariger Ruderer ohne Kopfschutz einem Riesen zu und deutete mit dem Kinn auf Lis.
»Ba’yr – das Wort habe ich schon einmal gehört«, sagte Lis zu Baschir. »Was bedeutet es?«
Sein Gesicht zeigte keine Regung, als er antwortete, doch sie glaubte Spott in seinen Augen zu sehen. »Kamelkalb. Akim meint, dein Kettenhemd ist schon schwer genug für ein Kampfross.«
Lis spürte voller Ärger, wie sie wieder rot wurde. Sie funkelte die Ruderer an, aber die lachten nur noch
Weitere Kostenlose Bücher