Die Rückkehr der Zehnten
über ein Dasein als Sklave schließlich zu den Piraten, zu Wahid und mit ihm zu Intisar.«
Lis räusperte sich. »Es… tut mir Leid, was dir zugestoßen ist«, sagte sie leise.
Schwach lächelte er und griff nach dem Gürtel, den er auf dem Tisch abgelegt hatte. »Ich habe genug über die Vergangenheit gesprochen. Vor uns liegt die Zukunft. Und die ist für uns alle ungewiss genug. Jetzt beeil dich!«
Der Gürtel, den er Lis hinhielt, war schwarz und breit und aus einem festen Stoff gemacht. Er war so lang, dass sie ihn zweimal um die Taille schlingen musste, um zu vermeiden, dass die langen Enden tief herunterhingen. Baschir stellte sich vor sie und zog und zerrte an dem Eisentuch, bis das Kettenhemd zum Teil wie eine Schürze über dem Gürtel hing. Dann schob er die Ärmel hoch und schnürte sie mit kürzeren Riemen an Lis’ Oberarmen fest. Plötzlich erschien ihr das Kettenhemd nicht länger unangenehm schwer, im Gegenteil. Durch das Gewicht hatte sie einen sicheren Schritt und eine Standfestigkeit, die ihr neues Selbstvertrauen gab.
»Ich weiß, es ist ungewohnt und wird dir mit jedem Schritt schwerer erscheinen, aber nimm das Kettenhemd nicht ab, bevor der letzte Krieger gefallen ist, hörst du?«, ermahnte sie Baschir. »Und das hier wirst du vielleicht ebenfalls brauchen können.«
Er reichte ihr eine breite Kurzaxt wie die, mit der sich Lis gegen die Sarazenen am Lagerfeuer verteidigt hatte. Behutsam nahm sie die Waffe entgegen und betrachtete die glatt geschliffene Schneide. Der Griff war schmaler als der der Kriegeraxt, er lag gut in der Hand. Nun musste sie nur noch ihr Kleid überziehen, das vor dem Zelt an einem Holzgestell am Feuer trocknete.
»Baschir?« Das Gesicht eines jungen Sarazenen tauchte an der Zeltklappe auf. Er mochte kaum älter als zwanzig Jahre sein, aber Lis wusste inzwischen, dass er einer der Hauptleute war. Er hieß Jishaar und ritt direkt im Gefolge der Desetnica. Bei Lis’ Anblick stutzte er, aber er sagte nichts. Baschir war mit zwei Schritten aus dem Zelt und wandte sich im Gehen nur kurz zu Lis um. »Nimm dein Kleid und zieh es an. Über das Kettenhemd!«, sagte er. »Ich hole dich, wenn es so weit ist. Halte dich bereit!«
Pferdewiehern erklang in unmittelbarer Nähe des Zeltes, dann Hufgetrappel. Rufe wurden lauter. Lis glaubte die Stimme der Desetnica herauszuhören und fragte sich, was die Kriegerin jetzt vorhatte. Sie beeilte sich, ihr Kleid zu holen, das noch feucht war und nach Rauch roch, und zog es über das Kettenhemd. Es spannte an den Armen, doch sie konnte sich erstaunlich gut bewegen. Ihren Beutel mit den Eidechsenknochen befestigte sie unter dem Kleid an dem schwarzen Gürtel, nahm die Kurzaxt und trat vor das Zelt.
Am Horizont über dem Meer wurde der Himmel schon beängstigend hell. Die Angst kroch ihr in den Bauch und wand sich dort wie eine träge Schlange. Sicher war Levin wach und starrte ebenso angstvoll in die Dunkelheit des fensterlosen Verlieses. Für ihn musste die Ungewissheit noch schlimmer sein, denn er sah nicht, ob es noch Nacht war oder schon hell wurde. Ob sie ihm gesagt hatten, was sie mit ihm und den anderen vorhatten? Sie war sicher, dass Tschur sich dieses grausame Spiel mit der Angst der Gefangenen nicht hatte nehmen lassen. Hass wallte in ihr auf, als sie an den Novizen dachte.
Vom Zelt aus konnte sie die geisterhaften Umrisse schwarzer Segel sehen. Wie gebogene Klingen sahen die Kampfschiffe, die Baschir als »Sambuq« bezeichnete, von hier aus. Ganz oben an den Masten hingen Querstangen, sodass der Eindruck von großen, schrägen Galgen entstand, von denen trapezförmige Segel hingen. Mit einem Schaudern erinnerte sich Lis an ihre erste Begegnung mit einer solchen Sambuq. Jahrhunderte war es her, so schien es ihr, seit sie mit Levin dem Geisterschiff begegnet war.
Hufgetrappel, das sich ihr von rechts näherte, ließ sie herumfahren. Auf den ersten Blick erkannte sie die Desetnica kaum wieder. Die Kriegerin saß auf einem knochigen, dunkelbraunen Pferd und wirkte viel größer als vor wenigen Stunden auf dem Hügel. Über einem Kettenhemd trug sie einen orangefarbenen Überwurf, der aus dickem Wollstoff gemacht war. Ein silbernes Kettentuch bedeckte ihr Haar und floss bis auf die Schultern herab. Es sah aus, als würde sie einen Helm tragen, der aus Kettengliedern und Stoff bestand. An ihrem Gürtel war ein großes, frisch geschliffenes Beil befestigt, in der linken Hand hielt sie eine lange Lanze mit einer gemein
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