Die Rückkehr der Zehnten
mit Intisar zusammen, die einen reflexartigen Satz zur Seite machte und ihre Kampfaxt hochriss. Mokosch gab einen keuchenden Entsetzenslaut von sich und duckte sich.
Einen Moment lang standen sich die Schwestern gegenüber – die Desetnica mit dem strengen Gesicht und Mokosch mit einem weichen und ergebenen Ausdruck des Unglaubens in den Augen. »Du bist da«, sagte sie nur und richtete sich auf.
Lis erkannte, dass sie zitterte. Mokosch glaubte ihrem Tod gegenüberzustehen, wurde ihr bewusst. Und so bedrohlich, wie Intisar mit der erhobenen Axt aussah, war sich plötzlich auch Lis nicht mehr sicher, was sie vorhatte.
Die Desetnica hielt die Axt immer noch hoch über ihrem Kopf. Ihr Gesicht verriet keine Regung, nur ihr Blick wanderte über die Gestalt ihrer Schwester, die sich schützend die Hand über den Bauch hielt, bereit, das zu erfüllen, was sie für ihr Schicksal hielt. Sie sahen aus wie Spiegelbilder. Wie ein Yin- und Yang-Zeichen, wie ein Fotoabzug und sein Negativ. Die Desetnica braun gebrannt und älter aussehend durch ihre Härte, mit hellen Augen, hellem Haar und dem verschlossenen Gesicht. Mokosch war blass geworden. Mit ihrem langen dunklen Haar und den weit aufgerissenen braunen Augen erschien sie im Angesicht des Todes kindlicher und jünger. Eine zerbrechliche Schönheit ging von ihnen aus. Fasziniert stellte Lis sie sich als Spielfiguren vor, die sich für die Ewigkeit gegenüberstanden und zu Ballerinamusik drehten.
Nur wenige Sekunden dauerte diese Begegnung, ein gefrorener Moment im Wasserfall der Zeit, bis Lis endlich wieder Luft holte. Ihr Herz hämmerte. Schon sammelte sie sich, um einen Sprung nach vorn zu machen und sich an den Axtarm der Desetnica zu hängen, da ließ die Kriegerin ihre Waffe sinken, trat einen Schritt auf Mokosch zu und umarmte sie. »Du wirst nicht sterben«, sagte sie leise. »Du nicht und dein Kind nicht.«
»Aber ich habe geträumt…«, flüsterte Mokosch mit matter Stimme.
»Ich auch«, sagte die Desetnica mit einer Sanftheit, die Lis anrührte. »Tausend Jahre lang habe ich geträumt. Der einzige Grund, warum ich hier bin, ist, dass ich aufhören will zu träumen.«
Jishaar rief etwas, das Lis verstand, auch ohne die Sprache zu können. Die Zeit drängte.
Im nächsten Augenblick war Intisars Miene wieder sachlich und kämpferisch. Sie ließ Mokosch los und trat einen Schritt zurück. Die Axtschneide schleifte über den Boden, Metall scharrte auf Stein. »Hör zu, Mokosch«, sagte sie. »Meine Krieger müssen in die Stadt gelangen und meiner Nachhut die Stadttore öffnen. Nur so kann ich die Priester besiegen.«
Mokosch blinzelte benommen, dann nickte sie wie in Trance und biss sich nervös auf die Lippe. Sie blickte sich zu der Tür um, durch die sie gekommen war. »Da drin sind vier unserer Krieger und verteidigen die Stadtmauer, um die Sarazenen daran zu hindern, sie zu erklimmen. Sie haben mich rausgeschickt, damit ich Verstärkung hole. Wenn du sie besiegen kannst, dann folge mir!«, sagte sie, drehte sich um und rannte den Weg, den sie zuvor gekommen war, wieder zurück. Ihre Schritte waren leicht und schnell. Mit den schweren Äxten, die im Takt der Schritte gegen die Kettenhemden schlugen, folgten ihr die Sarazenen. Lis bildete die Nachhut.
Im Zimmer strahlte ihnen durch die breiten Fenster ein von Stein gerahmtes Meer entgegen. Die Morgensonne hatte sich in eine polierte Kupferscheibe verwandelt. Schwarze Schattenrisse standen vor dem orangefarbenen Himmel und zogen wie Aufziehpuppen in einem grotesken Tanz immer wieder Pfeile aus den Köchern, die sie auf den Rücken festgebunden hatten. Mit der Präzision eines Uhrwerks schossen sie die Pfeile nach unten zum Fuß der Stadtmauer, wo vermutlich Sarazenen standen und versuchten, über Leitern oder Seile nach oben zu gelangen.
Einer von Dabogs Männern bemerkte hinter sich ein Geräusch und drehte sich zur Desetnica um. Die Sonne ließ seine Kupfermaske aufblitzen, dann röchelte er und griff sich an den Hals, in dem ein Sarazenenpfeil steckte. Jishaar hatte schon den nächsten Pfeil in den Bogen eingelegt, als der Krieger über die Brüstung kippte. Kampfgeschrei ertönte vom Strand her. Die drei anderen Krieger sahen den Körper ihres Mitstreiters in die Tiefe fallen. Gleichzeitig fuhren sie herum.
Pfeile zischten, ein Beil schwirrte an Lis vorbei, so dicht, dass sie aufschrie. Seltsamerweise war sie trotz des Schrecks geistesgegenwärtig genug, sich zu Boden zu werfen und Mokosch mit sich zu
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