Die Rückkehr der Zehnten
Geste. Vom Palasthof drang Geschrei herein.
»Wohin, Lisanja? Wie kommen wir in den Palast zu den Fürstengemächern?« In den Augen der Desetnica spiegelte sich kein Mitleid. Fordernd sah sie Lis an, Ungeduld umhüllte sie wie eine zitternde Aura.
Lis schniefte und wischte sich die Tränen vom Gesicht. Der Ärmel des Kettenhemdes schürfte ihr die Wange auf. Es ist Krieg, Lis, dachte sie. Was hast du erwartet? Dass wie im Märchen nur die Bösen getötet werden? Das Bild Tonas mit dem brennenden Haar kam ihr in den Sinn. Am liebsten hätte sie der Desetnica ins Gesicht geschlagen, hätte sie angeschrien, dass sie aufhören solle, aufhören mit dem Krieg, aufhören mit der Gewalt.
»Du hast keine Wahl«, sagte Intisar leise. »Dein Bruder wird sterben, wenn wir die Stadt nicht einnehmen. Entscheide dich.«
Ein kalter Angstschauer glitt Lis über das Genick, als ihr klar wurde, dass Intisar ihre Gedanken gesehen hatte.
»Ja, ich bin die zehnte Tochter«, flüsterte die Kriegerin nun und lächelte ihr feines Lächeln, das von der Narbe zerschnitten wurde. »Ich sehe, was du siehst. Und ich sehe, dass Levin sterben wird, wenn du ihm nicht hilfst.«
Lis zuckte zusammen, als sie den richtigen Namen ihres Bruders hörte.
Die Kriegerin beugte sich so weit vor, dass Lis ihren Atem an der Wange fühlte. »Das ist doch der Name deines Bruders – und du heißt Lis, nicht wahr? Zumindest nennst du dich in meinen Träumen so.«
Jishaar rief der Desetnica etwas zu, doch sie wies ihn mit einem gezischten Befehl zurecht. Er zog die Brauen verärgert zusammen, aber er schwieg, obwohl er vor Ungeduld bebte.
Lis blickte in die ernsten grauen Augen der Kriegerin, suchte nach einem Funken von Menschlichkeit und Wärme, aber alles, was sie fand, waren Entschlossenheit und eine seltsame Art der Vertrautheit. Sie sah Levin vor sich, mit blicklos geöffneten Augen auf dem Boden liegend wie der alte Firenc. Ihr wurde wieder übel, und sie erkannte mit stechender Klarheit, dass sie tatsächlich keine Wahl hatte.
Die Desetnica wartete immer noch auf ihre Antwort, während von draußen Schreie und Befehle über den Hof hallten.
»Gut, ich helfe dir«, flüsterte Lis und zeigte auf die Kleidertruhe neben der Tür.
Frauen mit Kindern im Arm flohen über den Hof zu den Palasträumen, um sich dort zu verschanzen. Durch das Palasttor erhaschte Lis einen Blick auf den Marktplatz. Waffen lagen dort, Krieger mit Kupfermasken trugen riesige Köcher mit Pfeilen, die von Bauern und Fischern, die eine Kette bildeten, zu den Bogenschützen auf die Stadtmauer weitergereicht wurden.
Verletzte wurden im schützenden Innenhof des Palastes versorgt. Blut befleckte das Mosaik von Nemeja und Poskur. Lis würgte die Tränen hinunter und rannte über den Innenhof voraus bis zur Tür, die zu den Fürstengemächern führte. Sie war verschlossen.
Jishaar und Aladar wechselten einen kurzen Blick, dann warfen sie die antjanischen Tücher, mit denen sie sich getarnt hatten, ab, zückten die Äxte und schlugen mit wenigen kräftigen Hieben das Schloss aus der Tür. Wie eine Zahnlücke gähnte ihnen das Loch entgegen. Rasch stießen sie die Tür auf und rannten in den Palast.
Lis keuchte, ihre Beine schmerzten schon nach den ersten paar Treppenstufen. Sie widerstand der Versuchung, das Kleid auszuziehen und sich des schweren Kettenhemdes zu entledigen. Während sie die Treppen zu den Fürstengemächern hinaufstürzten, fühlte sie sich wie in einem der Träume, in denen sie rannte und rannte und nicht von der Stelle kam. Einige Frauen kamen ihnen auf den Stufen entgegen. Sie strauchelten, drängten sich zusammen und starrten mit entsetzt aufgerissenen Augen die fremden Krieger an. Kinder klammerten sich an sie, doch noch sprach vor Schreck keine ein Wort. Erst als Chalid schweigend an ihnen vorbeistürmte und die anderen ihm folgten, brüllten die Kinder mit einem Mal los.
Sie werden uns verraten und die Krieger vom Hof herbeischreien, dachte Lis. Und was ist, wenn Dabog und die anderen gar nicht mehr im Palast sind?
Endlich, nach einer Ewigkeit, kam das Ende der Treppe in Sicht. Schon sah sie die dunkle Tür und den polierten Bronzekrug, der am Ende des Ganges stand. Intisar überholte sie und rannte mit der Axt in der Hand auf die Tür zu. In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen und eine zierliche Gestalt stürzte aus dem Raum. Ihr langes schwarzes Haar war zerzaust. Als Mokosch die Sarazenen sah, schrie sie auf und stolperte. Beinahe stieß sie
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