Die Rückkehr der Zehnten
schwanken, offensichtlich hatten die Worte sie getroffen wie eine Ohrfeige. »Du hättest mich geopfert, ich weiß«, erwiderte sie mit erschreckend ruhiger Stimme. »Jeder hat sein Schicksal und meines wurde vor vielen Jahren durch das Orakel der Nemeja bestimmt.«
»Es war nicht dein Schicksal, es war Verrat! Deine Mutter hat gegen Poskur gefrevelt und wurde dafür bestraft«, stieß er kalt hervor.
»Sie hat mir das Leben gerettet«, sagte die Desetnica beinahe sanft. »Auch sie glaubte an die Götter. Auch sie beugte sich der Tradition, dass die zehnte Tochter sterben muss, aber zumindest wollte sie mich vor einem grausamen Tod bewahren. Etwas, was du für sie nicht tun wolltest, nicht wahr?«
Schmerz durchzuckte Dabogs Gesicht, als er an den Tod seiner Frau Danila erinnert wurde.
»Ich träumte so oft von ihr, dass ich Angst hatte, mich dem Schlaf anzuvertrauen«, fuhr Intisar fort. »Immer wieder sah ich, wie Niams Diener die Statue ansägten und sie an einem dünnen Seil befestigten, das im richtigen Moment reißen würde. Ich sah Niam, wie er das Feuer legte, das bis zu dem zersägten Poskur hinaufloderte und das Seil verbrannte. Meine Mutter wurde wie geplant von der Statue des Rachegottes erschlagen. Sie und die alte Priesterin, die mich zum Meer gebracht hatte, wurden unter Poskur begraben. Und du hast es gewusst.«
Mokosch sprang auf. »Was sagt sie da?« Ihr Blick sprühte vor Entsetzen, Fassungslosigkeit und aufkeimendem Hass. »Du hast… meine Mutter… deine eigene Frau…?«
»Nein«, keuchte Dabog. »Sie lügt!«
Er taumelte zurück, das Schwert zitterte in seiner Hand. Seine Lüge brach sich wie ein Echo in Lis’ Kopf. Beinahe tat der Fürst ihr Leid – ein gebrochener Mann, dessen Weltbild einzig und allein davon abhing, ob die Götter ihm gewogen waren.
»O nein«, erwiderte Intisar mit einer gefährlichen Ruhe in der Stimme, die Lis schaudern ließ. »Du wusstest es an dem Tag, an dem Danila morgens aufwachte, dir im Bett in die Augen sah und aufstand, um hinauszugehen und wie jeden Tag ihre Pflichten als Herrin des Palastes zu erfüllen. Du hast nicht nach ihr gerufen und sie nicht gewarnt. Du hast sie nicht gerettet. Ich habe dich gesehen – in meinen Albträumen kniest du vor Poskur und heulst um deine Frau, die noch singend im Palast herumgeht, nicht ahnend, dass ihr Leben nur noch ein Fisch ist, über dem bereits der Speer des Fischers lauert. Niam tröstet dich und du nickst, als er dir einflüstert, dass dieses Opfer nötig ist – für Antjana, gefordert von Poskur. Ich sehe, wie du nickst, Vater. Immer wieder sehe ich, wie du nickst.«
»Poskur wollte das Opfer für dich!«, schrie der Fürst. »Du bist schuld an Danilas Tod. Hättest du nicht überlebt, hättest du dein Opfer gebracht, statt gegen unsere Götter zu lästern, dann würde sie noch leben.«
Intisars Lachen klang bitter. »Und deine Tochter Marzana auch, nicht wahr?«
Sein Mund klappte auf und zu, Röte stieg ihm in die Wangen und ließ sie fleckig aussehen. »Schuld an ihrem Tod bist du!«, schrie er und holte mit dem Schwert aus.
Intisar sprang zurück, hob mit einem flinken Ausfallschritt Aladars Säbel auf und parierte Dabogs unkoordinierten Schlag. Der Fürst keuchte, seine Augen quollen aus den Höhlen. Durch den Schwung des Hiebs, der ins Leere ging, verlor er das Gleichgewicht und taumelte.
Mokosch vergrub ihr nasses Gesicht an Lis’ Schulter. Lis fühlte sich, als würde die Fürstentochter sie erwürgen. So gut es ging, wand sie sich aus der Umklammerung und starrte atemlos den Fürsten an. Bitte nicht noch mehr Blut!, dachte sie. Bitte, lass es endlich vorbei sein.
»Ich?«, erwiderte Intisar ruhig. Sie umkreiste den Fürsten in einem Bogen. Schwerfällig folgte er ihrer Bewegung, um sie im Auge zu behalten. »Glaubst du das wirklich?« Spott und Trauer schwangen in ihrer Stimme mit.
Dabog stolperte über den Arm eines erschlagenen Kriegers und rappelte sich wieder auf. Er schäumte vor Wut. »Niam wird dich vernichten!«, keifte er.
»Dann ruf ihn«, sagte die Desetnica ernst. »Ruf deine Götter und deine Priester. Wenn all das wirklich meine Schuld war und du unschuldig bist, dann werden Poskur und Niam dir helfen.« Sie legte den Kopf in den Nacken und rief mit schneidender Stimme: »Niam! Komm und hilf deinem Fürsten, auch wenn er dir nichts mehr nützt. Poskur, hilf dem ergebensten aller deiner Diener!«
»Du… du… Hure Nemejas!«, stieß Dabog hervor und ging wieder auf sie los.
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