Die Rückkehr Des Bösen
mutmaßlich auf dem Weg in die Herrentoilette mit dem Täter kollidiert war. Linquists Beschreibung war spärlich: Ein junger Mann mit Baseballcap, sonst nichts. Von einer Waffe oder von Blut an seiner Kleidung hatte er nichts erwähnt.
Auch der Obduktionsbericht enthielt wenig Brauchbares, desgleichen die Protokolle der kriminaltechnischen sowie der toxikologischen Untersuchung. Maggie blätterte zu der Seite im Obduktionsbericht zurück, die ihre Aufmerksamkeit geweckt hatte. Laut Aussage der zuständigen Rechtsmedizinerin handelte es sich bei der Tatwaffe um eine zweischneidige, gut zwanzig Zentimeter lange Klinge mit einem ungewöhnlich großen Heft, das möglicherweise Gravuren aufwies. An den Rand hatte die Pathologin eine Skizze gezeichnet, die etwas darstellte, das einem antiken Dolch ähnelte.
Ein Dolch! Bei Maggies letztem Besuch in Nebraska hatte der Killer sich für ein Filettiermesser als Mordwerkzeug entschieden. Noch immer erinnerte sie sich an jede Einzelheit des Falles, an die kleinen weißen Kinderschlüpfer, an die Halloweenmaske und die rituelle Salbung der Stirn. Wenn sie in jüngster Zeit daran zurückdachte – was sie nach Möglichkeit vermied –, dann fiel ihr vor allem die bittere Kälte ein, der Schnee und die auf dem Platte River treibenden Eisklumpen. Aber so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte die kleinen, blaugefrorenen Körper, allesamt im Schlamm des Flussufers abgelegt und jeder mit einem schorfverkrusteten, grob geritzten X auf der Brust, nicht vergessen. Später hatte sich dann herausgestellt, dass das Zeichen mitnichten einen Buchstaben darstellte, sondern ein Kreuz.
Obwohl die beiden Männer, die sie schließlich gefasst hatten, längst mit lebenslangen Haftstrafen hinter Gittern saßen, war Maggie stets davon überzeugt gewesen, dass der wirkliche Schuldige davongekommen war. Monatelang hatte sie noch versucht, ihm auf die Spur zu kommen – natürlich ohne Erfolg. Denn weder reichten ihre Befugnisse bis nach Südamerika, noch konnte man dort auf die Kooperation oder Unterstützung vonSeiten der Behörden rechnen. Außerdem schien es ihr damals, als habe man in Platte City den Fall schnellstens ad acta legen wollen. Man wollte schlichtweg die Augen davor verschließen, dass ein junger, charismatischer katholischer Geistlicher zu solchen Untaten fähig war. Die Menschen dort wollten es nicht wahr haben, dass das Böse jemandem innewohnen sollte, der eigentlich dazu bestimmt war, Gutes zu tun. Maggie aber stellte sich dauernd die Frage, ob sich Vater Michael Keller in seinem kranken Hirn wohl guten Glaubens als Werkzeug des Allmächtigen dünkte. Warum sonst hätte er sich wohl die Mühe gemacht, seinen kleinen Opfern die letzte Ölung zu erteilen?
Sie hatte Gwen gegenüber behauptet, die Rückkehr nach Nebraska mache ihr nichts aus. Schließlich führte ihre Reise diesmal nach Omaha und nicht in das ländliche, dreißig Meilen südlich gelegene Platte City und somit auch nicht in die Nähe der damaligen Tatorte. Zudem würde sie es diesmal anstelle eines unerfahrenen Provinzsheriffs wie Nick Morrelli mit professionellen Ermittlern zu tun haben. Und trotzdem wollte es ihr nicht gelingen, die Erinnerungen an den grausamen Fall aus ihrem Gedächtnis zu verbannen, zumal sie Tag für Tag die Narbe an ihrer Seite sah, dort, wo der Killer, der wirkliche Mörder, sie erwischt hatte ... mit einem Filettiermesser.
Ja, Gwen hatte Recht. Manchmal dauerte es weit länger als vier Jahre, bis die Zeit die Wunden heilte.
Der Albtraum stellte sich zwar nicht mehr so oft ein wie in den Monaten unmittelbar nach ihren Ermittlungen, aber wenn er kam, dann war er kaum weniger bedrohlich als damals. Dann sah sie sich wieder in j enem finsteren, feuchten Tunnel unter dem Friedhof. Erdkrümel rieselten ihr ins Haar, Modergestank stach ihr in die Nase. Im Dunkeln vernahm sie das Knirschen seiner Schritte, die näher und näher kamen, spürte den Hauch seines Atems im Nacken. Und als er diesmal das Messer ansetzte, da schlitzte er ihr nicht nur die Seite auf, sondern er machte weiter und schnitt ihr ein tiefes Kreuz ins Fleisch.
„Ms. O’Dell?“ Die Flugbegleiterin schreckte sie aus ihren Gedanken. „Darf ich Ihnen noch etwas bringen?“
„Nein, danke. Alles okay.“ Sie lächelte der Stewardess zu und wartete ab, bis sie sich dem nächsten Fluggast zuwandte. Von wegen okay! Ihre Handflächen waren schweißnass, ihr Magen zu einem Knoten verkrampft. Nur rührte weder das eine noch das
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