Die Rückkehr des friedvollen Kriegers
Dann geh und meditiere eine Weile unter dem Wasserfall.«
Ich sah mir den Wasserfall noch einmal an und überlegte. Das war wirklich eine Menge Wasser, die da herunterkam. Es würde etwas anderes sein als nur eine kleine Dusche. »Klar, kann ich machen«, sagte ich lässig. So eine ähnliche Szene hatte ich einmal in einem Kung-Fu-Film gesehen. »Okay. Einverstanden. Zwanzig Minuten lang.«
»Fünf Stunden würden viel mehr beweisen«, sagte sie sofort.
»Was, fünf Stunden ? Da würde ich ja ertrinken! Oder einen Dachschaden davontragen!«
»Vielleicht hast du schon einen Dachschaden«, schmunzelte sie.
»Also gut – eine Stunde, aber das ist das Höchste. Vielleicht reicht auch das schon zum Ertrinken.« Ich streifte mein Hemd über den
Kopf und war schon im Begriff, mir auch die Schuhe auszuziehen; doch dann beschloß ich, sie lieber anzubehalten. Vorsichtig trat ich von einem rutschigen, moosbewachsenen Stein zum nächsten und tastete mich bis unter den Wasserfall.
Die Kraft des herabstürzenden Wassers hätte mich beinahe umgeworfen. Mühsam kämpfte ich mich vorwärts; zweimal wäre ich fast ausgerutscht. Schließlich fand ich einen flachen Stein. Dort setzte ich mich hin und bemühte mich, unter der Kraft der tosenden Fluten in meinem Rücken die Wirbelsäule geradezuhalten. Das Wasser war kalt; doch das war bei diesem Klima erträglich. Ein Glück, daß die Luft wenigstens warm ist, dachte ich, ehe die flüssige Lawine all meine Gedanken auslöschte.
Obwohl mein Kopf zum Zerspringen schmerzte, hielt ich mit eiserner Entschlossenheit durch, bis ich das Gefühl hatte, daß nun eine Stunde herum war. Aber es waren wahrscheinlich höchstens zwanzig Minuten. Ich war schon drauf und dran, »das Spiel wegen Regen abzusagen« – doch etwas hielt mich zurück. Vielleicht war es Mut – oder Entschlossenheit oder Selbstdisziplin. Oder vielleicht war es auch nur sturer, verbohrter Eigensinn.
Früher, wenn der Trainer fünfzehn Liegestütze im Handstand verlangt hatte, hatte ich immer freiwillig zwanzig gemacht. Schon immer war ich so gewesen, so lange ich zurückdenken konnte. Und so hielt mich auch jetzt irgend etwas bei der Stange, obwohl ich nur den einen Wunsch hatte, aufzustehen, fortzugehen, die Sache aufzugeben. Irgendwo in meinem Hinterkopf (der vordere Teil meines Kopfes war bereits wie taub) hallte immer noch Mama Chias Herausforderung nach und wiederholte sich wie ein Mantra: Fünf Stunden, fünf Stunden, fünf Stunden …
Während des Sportstudiums war mein Basis-Selbst darauf gedrillt worden, bei dem Wort »Herausforderung« stets sein Äußerstes zu geben. Ich spürte eine Welle der Energie durch meinen Unterleib und meine Brust emporsteigen, und mir wurde klar, daß ich tatsächlich im Begriff war, die Herausforderung anzunehmen. Fünf Stunden – ich war fest entschlossen. Dann versank die Welt in den Fluten, und ich konnte nicht mehr denken.
Irgendwo in dem dröhnenden Tosen, in dem Lärm, der aus immer weiterer Ferne an mein Ohr drang, hörte ich wieder den Wind brausen und sah vor meinem geistigen Auge einen weißen Turm auf mich zufliegen.
Dann fand ich mich in einem winzig kleinen Zimmer wieder. Beißende Gerüche hingen in der Luft, ein Dunst von Abwässern und Verwesung, teilweise von einem intensiven Duft von Räucherstäbchen überlagert. Ich erkannte die Kleidung – bunte Saris selbst inmitten dieser schrecklichen Armut. Es war kein Irrtum möglich. Ich war irgendwo in Indien.
Mir gegenüber versorgte eine Frau, die das Gewand einer Nonne trug, einen bettlägerigen Leprakranken, dessen Gesicht voller offener Wunden war. Mit Abscheu stellte ich fest, daß der Kranke einen tiefen, eiternden Riß in der Wange hatte. Ihm fehlte auch ein Ohr. Er lag im Sterben. Mich schauderte vor seinem Anblick, den üblen Gerüchen und der Krankheit. Entsetzt wich ich einen Schritt zurück und verschwand.
Wieder pfiff mir der Wind um die Ohren. Ich lehnte an einer halbverfallenen Backsteinmauer in Paris in einer Seitengasse der schmalen Rue de Pigalle. Ein Gendarm hob gerade einen Betrunkenen aus dem Rinnstein auf, der über und über mit Erbrochenem bedeckt war und nach Gosse stank, und half ihm in den Polizeiwagen. Angeekelt trat ich zurück. Da verblaßte auch diese Szene vor meinen Augen.
Wieder blies der Wind. Unsichtbar wie ein Geist saß ich am Bett eines Teenagers in einem eleganten Vorstadthaus in Los Angeles. Er schnupfte irgendein weißes Pulver. Dummer Kerl, dachte ich.
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