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Die Rückkehr des Tanzlehrers

Die Rückkehr des Tanzlehrers

Titel: Die Rückkehr des Tanzlehrers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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in den dunkelsten und kältesten Nachtstunden angehalten, um eine Weile zu schlafen. Bevor er den Rastplatz verließ, hatte er das Brecheisen und den Schraubenzieher unter dem Moos vergraben. Er erinnerte sich genau daran, was er getan hatte. Dennoch zweifelte er. Es war, als könne er keiner Sache mehr wirklich sicher sein.
    Er stand am Fenster und schaute auf die Alleegata hinunter. In der Wohnung unter sich hörte er die alte Frau Ha-kansson Klavier spielen. Das wiederholte sich jeden Tag, außer sonntags. Zwischen Viertel nach elf und Viertel nach zwölf spielte sie auf ihrem Klavier. Immer das gleiche Stück. Ein übers andere Mal. Im Polizeipräsidium gab es einen Kriminalinspektor, der sich für klassische Musik interessierte. Einmal hatte Stefan versucht, ihm das Klavierstück vorzusummen, und er hatte sofort gesagt, es wäre Chopin. Später hatte sich Stefan eine Platte mit genau dieser Mazurka gekauft. Eine Zeitlang, wenn er nachts gearbeitet hatte und tagsüber schlief, hatte er versucht, die Platte zur gleichen Zeit aufzulegen, in der Frau Hakansson zu spielen begann. Aber es war ihm nie ganz gelungen, die beiden Versionen zur Übereinstimmung zu bringen.
    Jetzt spielte sie wieder. In meiner chaotischen Welt ist sie das einzig Feste und Unveränderliche, dachte er. Er schaute auf die Straße hinaus. Seine Disziplin, die er früher immer als selbstverständlich angesehen hatte, existierte nicht mehr. Es war ein wahnsinniges Unternehmen gewesen, in Wetterstedts Wohnung einzubrechen. Auch wenn er keine Spuren hinterlassen hatte. Auch wenn er außer einer Erkenntnis, auf die er am liebsten verzichtet hätte, nichts mitgenommen hatte.
    Er frühstückte und sammelte seine schmutzige Wäsche zusammen, um sie mit zu Elena zu nehmen. Es gab in seinem eigenen Keller zwar eine Waschküche, aber er benutzte sie fast nie. Dann holte er ein Fotoalbum aus einem Sekretär und setzte sich damit auf das Sofa im Wohnzimmer. Es war seine Mutter gewesen, die die Bilder eingeklebt und ihm das Album zu seinem einundzwanzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Aus seinen frühesten Jahren konnte er sich an eine altmodische Box erinnern. Dann hatte sein Vater neue Kameras gekauft, und die letzten Fotografien waren mit einer MinoltaSystemkamera aufgenommen worden. Immer hatte der Vater fotografiert, nie die Mutter. Doch der Vater hatte sooft wie möglich einen Selbstauslöser benutzt. Stefan sah die Bilder an. Die Mutter auf der linken Seite, der Vater auf der rechten. Das Gesicht des Vaters wirkte immer angestrengt, weil er gerade noch vor der Belichtung ins Bild gelaufen war. Viele Male war es mißlungen. Stefan erinnerte sich besonders an eine Gelegenheit, als sie nur noch ein Bild auf dem Film hatten und der Vater auf seinem hastigen Weg von der Kamera gestürzt war. Stefan blätterte weiter. Seine Schwestern. Immer nebeneinander. Und die Mutter, die direkt in die Kamera starrte.
    Was wissen meine Schwestern über Vaters Ansichten, dachte er. Vermutlich nichts. Was hat Mutter gewußt? War sie der gleichen Überzeugung gewesen?
    Er ging das Album langsam durch. Bild für Bild.
    1969 ist er sieben Jahre alt. Der erste Schultag. Die Farben fingen an zu verblassen, aber er erinnerte sich daran, wie stolz er auf seine neue dunkelblaue Jacke gewesen war.
    1971 ist er neun Jahre alt. Es ist Sommer. Sie sind nach Var-berg gefahren und haben auf Getterön ein kleines Haus gemietet. Badehandtücher zwischen den Klippen. Ein Transistorradio. Er kann sich sogar an die Musik erinnern, die spielte, als das Bild aufgenommen wurde. »Sail along silvery moon.« Er erinnert sich daran, weil sein Vater den Namen, direkt bevor er auf den Selbstauslöser drückte, gesagt hatte.
    Es war ein Idyll dort zwischen den Klippen. Vater, Mutter, er selbst und die beiden Schwestern im Teenageralter. Gleißende Sonne. Scharfe Schatten. Verblichene Farben.
    Das Bild zeigt nur die Oberfläche, dachte er. Darunter gibt es etwas völlig anderes. Ich habe einen Vater, der ein Doppelleben geführt hat. Vielleicht ist er nachts, wenn der Rest der Familie geschlafen hat, hinaus auf die Klippen gegangen und hat den rechten Arm zum Hitlergruß gestreckt? Vielleicht hat es auf Getterön andere Menschen in anderen Hütten gegeben, die er besucht und mit denen er Gespräche über das Vierte Reich geführt hat, das, wie er gehofft haben muß, früher oder später kommen würde.
    In den sechziger und siebziger Jahren, als Stefan aufwuchs, war nie vom Nationalsozialismus die

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