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Die Rückkehr des Tanzlehrers

Die Rückkehr des Tanzlehrers

Titel: Die Rückkehr des Tanzlehrers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Rede gewesen. Er konnte sich vage daran erinnern, daß Schulkameraden einer mißliebigen Person »Judenschwein« nachgerufen hatten. An den Toilettenwänden in der Schule waren Hakenkreuze eingeritzt gewesen, und die Hausmeister waren wütend hingegangen und hatten geschrubbt. Aber daß die nationalsozialistische Bewegung lebendig gewesen sein sollte und nicht ein Stück abgeschlossener Geschichte, daran konnte er sich ganz und gar nicht erinnern.
    Langsam weckten die Bilder die Erinnerungen zum Leben. Das Album bestand aus Trittsteinen, auf denen er hinüberhüpfen konnte. Dazwischen lagen Erinnerungen, die nicht fotografiert worden waren und die jetzt in sein Bewußtsein zurückkehrten.
    Er muß damals zwölf Jahre alt gewesen sein. Er hat lange auf ein neues Fahrrad gewartet. Sein Vater ist nicht geizig, aber es hat gedauert, ihn davon zu überzeugen, daß das alte nicht mehr gut genug ist. Schließlich gibt der Vater nach, und sie fahren nach Boras. Im Laden müssen sie warten, bis sie an der Reihe sind. Ein anderer Mann möchte ebenfalls ein Fahrrad für seinen Sohn kaufen. Der Mann spricht schlecht Schwedisch. Es dauert, bis das Geschäft abgeschlossen ist und der Mann und der Junge mit dem neuen Fahrrad verschwinden. Der Ladeninhaber ist im Alter seines Vaters. Jetzt beschwert der Vater sich darüber, daß es so lange gedauert hat.
    »Jugoslawen. Es werden immer mehr.«
    »Was wollen die hier?« sagt der Vater. »Sie sollten nach Hause geschickt werden. Sie haben hier in Schweden nichts verloren. Reicht es nicht schon mit all den Finnen, die wir hier haben? Von den Zigeunern ganz zu schweigen. Die sollten ausgerottet werden.«
    Stefan erinnerte sich wortwörtlich. Es war keine nachträgliche Konstruktion. Genauso hatte der Vater sich ausgedrückt. Der Verkäufer hatte nicht geantwortet. »Die sollten ausgerottet werden.« Vielleicht hatte er gelächelt, oder er hatte genickt, aber er hatte nichts gesagt. Vor allem hatte er keinen Widerspruch erhoben. Dann hatten sie das Fahrrad gekauft, es auf dem Dach befestigt und waren nach Kinna zurückgekehrt. Seine Erinnerung war jetzt ganz deutlich. Wie war seine eigene Reaktion gewesen? Er war von dem neuen Fahrrad voll in Anspruch genommen. Er konnte sich noch an die Gerüche im Laden erinnern. Gummi und Öl. Etwas kam dennoch aus der Tiefe seiner Erinnerung herauf. Er hatte trotz allem reagiert. Nicht darauf, daß sein Vater der Meinung gewesen war, Zigeuner sollten ausgerottet und Jugoslawen zurückgeschickt werden. Sondern auf die Tatsache, daß sein Vater überhaupt einer Meinung Ausdruck verliehen hatte, was ungewöhnlich war. Einer politischen Meinung.
    In seiner Jugend war nie über etwas anderes diskutiert worden als über harmlose Themen. Was es zum Abendessen geben würde, ob der Rasen geschnitten werden mußte, welche Farbe das neue Wachstuch in der Küche haben sollte.
    Aber eine Ausnahme hatte es gegeben. Die Musik. Darüber konnte diskutiert werden. Sein Vater hörte ausschließlich alte Jazzmusik. Stefan konnte sich noch an die Namen einiger der Musiker erinnern, für die sein Vater ihn vergeblich zu begeistern versucht hatte. Joe »King« Oliver, der Kornettist, der die große Inspirationsquelle für Louis Armstrong gewesen war. Er hatte mit einem Taschentuch über den Fingern gespielt, damit andere Trompeter nicht sehen konnten, wie er es anstellte, seine hochkomplizierten Soli zu spielen. Dann der Klarinettist Johnny Dodds. Und vor allem der große Bix Beiderbecke. Immer wieder mußte er die verkratzten alten Aufnahmen anhören. Und er hatte so getan, als gefielen sie ihm. Als wäre er so begeistert, wie der Vater es sich wünschte. Das machte es leichter, ein neues Eishockeyspiel zu bekommen oder irgend etwas anderes, was er hatte haben wollen. Aber eigentlich hörte er am liebsten dieselbe Musik wie seine Schwestern. Oft die Beatles, aber hauptsächlich die Rolling Stones. Der Vater hatte die Töchter, was ihren Musikgeschmack anging, als verloren betrachtet. Aber Stefan war möglicherweise noch zu retten.
    In jüngeren Jahren hatte sein Vater die Musik, die er liebte, selbst gespielt. An der Wohnzimmerwand hing ein Banjo. Es war immer wieder vorgekommen, daß er es herunternahm und eine Weile spielte. Akkorde, selten etwas anderes. Es war ein Levin-Banjo mit langem Hals. Ein kostbares Stück, wie der Vater erklärte. Aus den zwanziger Jahren. Es existierte auch eine Fotografie vom Vater, auf der man ihn in einer Gruppe spielen sah, die Bourbon

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