Die Ruhe Des Staerkeren
Sauerkrautsuppe dieser Gegend. Zuerst servierte sie der Großmutter, die bereits abwinkte, bevor die Schöpfkelle ihren Teller erreicht hatte.
»Reden Sie keinen Mist, ich bin zu alt für Höflichkeiten. Legen Sie noch zwanzig Jahre drauf, dann haben sie es. Als ich vor den Kommunisten aus Jugoslawien floh, war ich bereits vierunddreißig Jahre alt, und raten Sie einmal, wie viele Ausweise ich in meinem Leben hatte!« Sie löffelte ihre Suppe.
Sedem warf Pina einen verlegenen Blick zu und schwieg. Selbst wenn sie die Antwort gekannt hätte, wäre sie sich nicht sicher gewesen, ob das wirklich eine an sie gerichtete Frage gewesen war. Die Frau wollte sie mit Sicherheit selbst beantworten. Wie der alte Galvano, der sich auch gerne mit seinem hohen Alter aufspielte und mit all dem, was er in seinem Leben schon erlebt hatte. So griff auch Pina zum Löffel. Wenigstens war die Suppe ausgezeichnet.
»Nun, bis heute sind es neun!« Sie hatte den Löffel geräuschvoll zurückgelegt, offenbar war sie mit ihrem Teller fertig. »Ich bin 1912 in diesem Dorf geboren, Signorina, unter den Habsburgern. Nach dem Ersten Weltkrieg, als ich sechs war, kam das Italienische Königreich und brachte auch gleich den Faschismus gegen uns in Stellung, 1943 gaben die Nazis neue Dokumente aus, 1945 druckten die Titopartisanen ihren Stempel hinein, vor denen ich nach Triest floh. Kommunistin wollte ich wirklich nicht werden, und drüben waren die Westalliierten. Aber 1954 floh ich auch aus Triest, da war ich zweiundvierzig und Sedems Vater schon sieben. Als die Alliierten abzogen, erstickte man in der Stadt geradezu vor proklamierter Italianità. Ich ging nach Deutschland und heiratetein Bremen, das ist ganz oben im Norden, junge Frau. Da bekam ich irgendwann den deutschen Paß. Aber in den Siebzigern, als mein Sohn Goran in Amerika war und mein Mann soeben verstorben, kam ich, nach einem kurzen Aufenthalt in den USA, doch hierher zurück. Und hier bekam ich den jugoslawischen Ausweis, nach der Unabhängigkeit auch den slowenischen und später natürlich den Reisepaß der Europäischen Union. Und glauben Sie mir, junge Dame, überall habe ich Dinge gesehen, über die alle den Mantel des Schweigens deckten, was auch besser so war. Vor so viel Scham könnte sonst niemand mehr weiterleben. Wie soll man da also vor irgendeiner Nation Achtung haben? Ich bitte Sie! Ich verspüre nur Verachtung für alle diese sogenannten Völker. Nehmen Sie es nicht persönlich, Signorina, aber ich habe genug.«
Mit diesen Worten erhob sie sich, trippelte zu Sedem und küßte ihn auf die Stirn. »Gute Nacht, Sebastian.« Diesmal gab sie Pina die Hand, bevor sie entschwebte, und es schien sogar, als huschte der Anflug eines Lächelns über ihr Gesicht.
»Großmutter scheint Sie zu mögen«, sagte Sedem schließlich und schenkte von dem Schaumwein nach. »Selten, daß sie jemandem ihre Gedanken mitteilt. Die meisten sind perplex und fühlen sich persönlich beleidigt, wenn sie ihre Meinung sagt.«
»Kann ich mir gut vorstellen«, sagte Pina einsilbig, die diese Attacke weder verstanden noch verdaut hatte. »Einen solch nationalistischen Blödsinn hört man selten.«
»Haben Sie wirklich nicht verstanden, Pina?« Sedem rieb sich vor Vergnügen die Hände. »Sie hat doch gesagt, wen sie haßt. Die Italiener, die Slowenen, die Deutschen, die Amerikaner und so weiter. Ihre Mutter war Slowenin, ihr Vater Italiener, und unter ihren Vorfahren finden sich Schweizer, Griechen, Serben und Juden und noch viel mehr. So wie es hier üblich war. Sie hat sich einmal sogar als Universal-Rassistinbezeichnet, und Duke nennt sie stets ›das amerikanische Souvenir‹. Sein Vater war GI, der allerdings, ganz gegen seine Beteuerungen, niemals die Absicht hatte, Sonjamaria zu heiraten, und nie wieder von sich hören ließ, als er 1954 in die Staaten zurückging. Als Duke später in den USA studierte, hat er ihn allerdings aufgespürt. Das war sein großes Glück. Großmutter hat in Norddeutschland zwar einen wohlhabenden Kaufmann geheiratet und dafür gesorgt, daß ihr Sohn die besten Schulen besuchte, aber sein leiblicher Vater war wirklich vermögend, und vor allem hatte er beste Verbindungen. Aber lassen Sie uns von was anderem reden. Mich interessiert viel mehr, wo Sie so phantastisch zeichnen gelernt haben. Sie sind wirklich eine Künstlerin.«
Die Köchin servierte den Schweinebraten mit knuspriger Kruste aus geriebenen Fenchelblüten und wildem Thymian. Und der Fahrer entkorkte
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