Die Ruhe Des Staerkeren
junge Frau entblößte trotz der Kälte lachend ihre Brüste, die eine war mit der slowenischen Fahne bemalt, die andere mit der Trikolore. Beide freuten sich über den Applaus. Manch einer der Teilnehmer am Volksfest bat die Zöllner, zur Erinnerung ein letztes Mal einen Stempel in den Paß zu drücken. Und als hätte man ihnen den Befehl erteilt, konnten die Uniformierten plötzlich freundlich lächeln. Über Jahrzehnte hatten sie sich unter dem Befehl der Zentralmächte skeptisch beäugt, doch jetzt tranken auch sie ein paar Gläser zusammen.
In der Mitte der beiden Fahrspuren, die für den Transitverkehr freigehalten wurden, schwenkte ein junger Mann zu Beethovens Neunter kunstvoll eine riesige Europafahne über die Windschutzscheiben der vorbeifahrenden Autos. Wie er es anstellte, nicht unter die Räder zu kommen, war vermutlich nur mit seinem Alkoholpegel zu erklären. Ein Sattelschlepper bahnte sich im Schrittempo den Weg durch die Menge und ergänzte die Blasinstrumente in Karajans Version der »Ode an die Freude« mit dem Klang seines Preßlufthorns. Ein fröhliches, ausgelassenes Volksfest kurz vor Weihnachten, das die ganze Nacht dauern sollte.
Proteo Laurenti war am Abend zum zweiten Mal an diesem Tag auf den Karst hinaufgefahren. Er hatte für die ganze Familie in der »Trattoria Valeria« im Ortsteil Opicina einen Tisch bestellt. Selbst Marco kam mit, sehr zum Mißbehagen seiner Chefin und seiner Kollegen, denen er seine Arbeit überließ. Doch zu selten gelang es, die ganze Familie für einen Abend unter einen Hut zu bringen. Und bei »Valeria« eine Jota und danach Pollo fritto, das mochte auch er ganz gern.
Nach dem Abendessen drängten sich alle sechs in Laurentis Dienstwagen, damit sie dank des Blaulichts, das er aufs Dach stellte, näher an den Ort des Geschehens kamen. Großmutter Immacolata beteuerte zwar, daß sie keine Mühe hätte, ein paar Kilometer zu Fuß zu gehen, doch redeten ihr alle rasch die Flausen aus. Laurenti ließ die Familie noch vor dem Schlagbaum aussteigen und parkte schließlich hundert Meter weiter im Niemandsland. Immer wieder mußte er Freunde begrüßen, und einmal stolperte ihm die nicht nur für diese Jahreszeit viel zu tief dekolletierte Marietta über den Weg, ein Glas Wein in der einen Hand und seinen ehemaligen Assistenten Antonio Sgubin an der anderen. Der Schlaumeier hatte sich offensichtlich erfolgreich von seinem Dienst im benachbarten Gorizia gedrückt. Noch einer, der die Arbeit lieber den Kollegen überließ. Und dabei hätten die ihn vermutlich dringend gebraucht, denn auch in Gorizia tanzte in dieser Nacht das Volk auf der Straße, war es neben Berlin doch die zweite geteilte Stadt Europas gewesen. Und dann stieg vor Laurentis Nase auch noch der Staatssekretär aus der dunkelblauen Ministeriumslimousine, dem Laurenti die Scherereien mit der offiziellen Zeremonie am Samstag zu verdanken hatte.
»Na, Laurenti. Auch hier?« Der Mann setzte sein bezwingendes Politikerlächeln auf. »Haben Sie für den Festakt in Rabuiese alles fest im Griff? Ich kann mich doch auf Sie verlassen, Commissario? Sie wissen, wie wichtig uns diese Zeremonie ist.«
»Wir denken ausschließlich an die Sicherheit der Bürger und ihrer Volksvertreter. Tag und Nacht, Herr Staatssekretär.«
Einige dieser Bürger waren bereits jetzt stark angetrunken und rempelten die beiden an, ohne sich weiter darum zu kümmern. Der Politiker schaute sich nervös um.
»So viele Menschen hier«, sagte er, als fürchtete er sich vor seinen Wählern. »Wo ist der Haupteingang ins Festzelt?«
»Sie freuen sich alle auf die Zukunft, Staatssekretär. Dort unten geht’s rein.« Laurenti wußte es selbst nicht und zeigte ungewiß in die Menge. »Halten Sie eine Rede?«
»Muß ich wohl.«
Laurenti glaubte nicht, daß die Leute genau darauf warteten, er winkte ihm noch kurz zu, erkannte dann auf dem Mobiltelefon die Nummer seiner Tochter Patrizia und nahm ab.
»Papà, wo bist du?«
»Ich komme. Wo seid ihr?«
»Am Haupteingang des Festzelts. Aber das ist brechend voll, und das Programm ist auch nicht besonders. Laß uns an dem Stand mit dem Glühwein treffen.«
»Du darfst aber keinen Alkohol trinken, Patrizia. Denk an deinen Sohn.«
Zehn Minuten später hatte er seine Familie endlich gefunden.
*
Inspektorin Pina Cardareto ließ sich auf der Rückfahrt vom Depot der Spurensicherung in der Via Valdirivo vor dem »Buffet Rudy« absetzen. Es war Zeit, den Magen wieder einzurenken. Ein
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